Bundesarchiv, B 145 Bild-F024017-0001 / Gathmann, Jens / CC-BY-SA 3.0

Gerade hatte ich noch die Feder in der Hand, um mit einer gefühlten Armee von Gleichgesinnten gegen den Verlust der Meinungsfreiheit anzuschreiben, den Herr Maas heute eingeleitet hat und durch den ahnungslosen Bundestag peitschte, da ruft Frau Merkel bei „Brigitte“: „Schaut da, ein Vög’lein!“ und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wandte sich flugs einem anderen Thema zu. Wer von dieser Volte Angela Merkels wirklich überrascht war, muss in den letzten zwölf Jahren in einer Marskolonie verbracht haben. Alle andern wissen längst, dass es keine Position gibt, für die sie wirklich steht, keine Meinung, die sich nicht ändern könnte, keinen Verrat, zu dem sie nicht fähig wäre. Die Ablenkung war jedenfalls perfekt!

Wo Kohl noch echte Schatten warf, hantiert die ewige Kanzlerin seit Jahren geschickt mit den Schatten der Aufmerksamkeit, um wichtige Themen zu verdecken, die sich dadurch störungsfreier in Gesetze gießen lassen. „Ehe für alle“ ist ein Thema, das es in der öffentlichen Wahrnehmung scheinbar innerhalb von nur wenigen Tagen geschafft hat, von einer frisch gezogenen „Roten Linie“ der Grünen und der FDP zum Wahlprogramm von SPD und nun auch zum unfreiwilligen Last-Minute-Regierungsprogramm der Merkelpartei zu werden. Etwas mehr als eine Woche, Donnerwetter! Woher die plötzliche Dringlichkeit? Ganz einfach, es ging um die Aufrechterhaltung der ewigen Kanzlerinnenmehrheit auch in der Zukunft. Jede Position, die einer möglichen späteren Koalition im Weg stehen könnte, wird umgehend geräumt. Merkels persönlicher Albtraum ist leider genau das, was sie der Bevölkerung seit Jahren als Normalzustand zu verkaufen versucht: die politische Alternativlosigkeit. Um dies zu vermeiden hat Merkel weite Teile ihrer eigenen Partei geopfert, obwohl sie damit ihre eigene Meinung zum Thema ebenfalls verriet.

Es gibt Themen, bei denen sich nur langsam und über Generationen Haltungen ändern. Beides ist normal, sowohl die Änderung an sich, als auch die Widerstände, die den Wandel verhindern möchten. Der Umgang der Gesellschaft mit Schwulen und Lesben hat sich über viele Jahre hinweg immer positiver und offener entwickelt, auch in konservativen Kreisen. Aber da gab es diesen einen „Gral“, den die Konservativen in den Händen hielten, den sie nicht hergeben wollten, auch wenn er längst Risse hatte, nicht mehr so goldig und verheißend glänzt wie vor 100 Jahren und als Wanderpokal auf Zeit verliehen wird: Die Ehe.

Standpunkt, Stehpunkt, Drehpunkt

„Fortschrittlichkeit“ ist stets etwas, das sich politische Bewegungen als Eigenlob und Orden anheften. Betrachtet man „Fortschritt“ jedoch aus der Distanz der Geschichte, wird klar, dass er oft auf konservativen, vermeintlich „rückschrittlichen“ Entscheidungen von damals fußt. Hätte sich beispielsweise die „fortschrittliche“ 68er Bewegung stärker durchgesetzt, könnte sich heute vielleicht kaum noch jemand an den Begriff „Ehe“ erinnern und wir hätten statt der „Ehe für alle“ längst die „Ehe für niemanden“. Stattdessen hätte sich vielleicht die Idee von Olympe de Gouges durchgesetzt, die 1791 eine „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ veröffentlichte und Forderungen nach der völligen zivilrechtlichen und politischen Gleichstellung der Frau stellte. Die Ehe als Institution sah sie als überholt an und forderte stattdessen, einen Sozialvertrag an ihre Stelle zu setzen. Es kam bekanntlich anders, der „Fortschritt“ wählte den Weg, die „spießige Ehe“ beizubehalten und gleichzeitig gleichgeschlechtliche Beziehungen nach und nach rechtlich ebenso abzusichern wie die Ehe. Einige Punkte fehlen noch, sicher. Aber anstatt Punkte wie etwa das Adoptionsrecht direkt ins Auge zu fassen, entschied man sich dafür, einen Begriff zu okkupieren, weil dieser nicht hinlänglich präzise definiert war. In Artikel 6 des Grundgesetzes heißt es nämlich nur lapidar: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Kam denn niemand der Autoren auf die Idee, den Begriff „Ehe“ näher zu definieren? Aber ja, dort wo er herkommt, war der Begriff stets klar definiert. Nämlich in der Religion.

Wir reden aber heute von der „Zivilehe“, einer Einrichtung, die es vor der französischen Revolution noch gar nicht gab. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, der Aufklärung und der Zurückdrängung des Einflusses des Klerus aus dem Alltag der Bürger, übernahm der Staat die Verpflichtung, Personenregister zu führen und das, was früher ein religiöses Sakrament war, auf zivilrechtliche Füße zu stellen. Wer aber wen warum heiratete, blieb lange Zeit common sense, niemand dachte daran, dies zu präzisieren. Das ist heute das Dilemma der Konservativen, die zur Argumentation nicht im Zivilrecht, sondern in der Bibel blättern müssen, was ihrer Verweigerungshaltung etwas rührend Vergebliches gibt. Andererseits verdanken die fortschrittlichen Jubelchöre ihren vermeintlichen Erfolg, den vermeintlich letzten Gral der tatsächlichen Gleichheit endlich in den Händen zu halten, der Tatsache, dass frühere Konservative ihn gegen die Feministinnen, Hippies und 68er verteidigt haben. Die vielgescholtene Ehe ist nun also wieder etwas frisches, zeitgeistiges; und während zahlreiche Hetero-Paare sich lieber für ein Zusammenleben ohne Trauschein entscheiden und dafür alle finanziellen Nachteile in Kauf nehmen, wird in der Gay-Community endlich geheiratet, was aus Schwulen und Lesben gewissermaßen die Konservativen von heute macht. Sei`s drum, mir egal. Ich habe eigentlich keine Haltung zu diesem Thema und das muss ich auch nicht. Das Argument allerdings, man nehme niemandem etwas weg, gebe aber einigen etwas, greift meiner Meinung nach zu kurz. Setzt sich dies als Argument durch, sind auch juristische Baustellen ähnlicher Art denkbar. Besonders dann, wenn man ein weiteres Argument der Befürworter betrachtet. „Ehe für alle“ bedeute ja nicht, dass ein Papagei einen Toaster heiraten könne, das gehe nur zwischen Erwachsenen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte seien. Betrachtet man diese Argumente, hat man vielleicht noch keinen Grund, vor der Legalisierung der Kinderehe zu zittern. Anders sähe das mit den Mauern aus, die heute noch die Vielehe verhindern. Was nehmen ein Mann und drei Frauen denn anderen Menschen weg, wenn sie sich freiwillig für eine Ehe zu viert entscheiden? Die klammheimliche Loslösung der Definition des Ehebegriffes aus der religiösen Tradition verschiebt den Begriff in Richtung Beliebigkeit und Flexibilität, von der Seite ist also keine Hilfe mehr zu erwarten. Was bleibt, sind in der Frage der Vielehe die Errungenschaften des Feminismus, die ich allerdings in Zeiten des hemmungslosen Kulturrelativismus für ebenfalls extrem gefährdet halte.

Heute wurde abgestimmt. Das Tempo war atemberaubend, nachdem besonders SPD und CDU/CSU jahrelang auf der Bremse standen und das Thema fast gänzlich aus der Tagespolitik verschwunden war: Sitzungseröffnung, Tagesordnungspunkt hinzufügen, 40 Minuten Redezeit, abstimmen, fertig. In nicht einmal einer Stunde war die Sache erledigt. Der Blätterwald überschlägt sich vor Freude, Spiegel-Online malt sogar sein „O“ in Regenbogenfarben an. Nicht einmal Trump schafft es heute, den SPON-Leser derart zu fesseln. Und ähnlich wie der Strolch aus dem Weißen Haus selbstredend allein gegen eine fortschrittliche Welt steht, stoßen unbelehrbare Konservative auf völliges Unverständnis, wenn sie voller Verzweiflung um die Häuser rennen und ihre Vorsitzende an bindende Parteitagsbeschlüsse oder Urteile des Verfassungsgerichts gemahnen, die sie doch nicht so ohne weiteres in den Wind schlagen könne. Doch, sie kann. So wie sie das schon immer konnte. Rettungspakete, Migration, Atomausstieg, PKW-Maut…nun also die „Ehe für alle“, ein weiteres Thema, das Angela Merkel aus einer ihr fremden Agenda herausreißt, seiner Kontextualität entkleidet um es der Reihe von „Projekten“ hinzuzufügen, die tot und ausgestopft hinter ihr an der Wand hängen.

Ich wage es nicht zu beurteilen, ob der Beschluss des Bundestages zur „Ehe für alle“ heute gut oder schlecht war. Doch was auch immer zutrifft, er war es aus den falschen Gründen und überstrahlte dabei so ganz nebenbei die Abstimmung zum NetzDG, dass man leider nicht dafür feiern kann, 5% der Bevölkerung etwas zu geben, sondern dafür hätte verdammen müssen, dass es 100% der Bevölkerung etwas wegnimmt. Das Fazit dieses epochalen Sitzungstages im Bundestag lautet denn auch „Ehe für alle, aber Meinungsfreiheit für niemanden“. Ich erlaube mir, den Korken vorerst in der Sektflasche zu lassen.

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2 Kommentare

  1. Was die Einschätzung von AM anbelangt, bin ich völlig bei Ihnen, Herr Lesch.
    Was die Ehe betrifft, glaube ich, dass der Bundestag gestern das Ende dieser Institution in seiner staatliche Form eingeleitet hat.
    Bei dem im GG vorgesehen Schutz von Ehe und Familie ging es vor allem darum, die Familie vor staatlicher Anmaßung und Willkürlich zu schützen. Der vorausgegangenen nazionalsozialistischen Diktatur war die Familie mit ihren auf gemeinsamen Blut basierenden Verwandschafts und Treueverhältnissen nämlich ein Dorn im Auge. Und so ist es auch heute noch in aller totalitären Staaten. Mit dem gestrigen Vorstoß wurde dieser Schutz und die Idee der Familie zu Grabe getragen. Das in einem Atemzug verabschiedete NetzDG hat mehr mit dieser Entscheidung gemeinsam, als es den Anschein hat.

  2. Sehe ich fast genauso, Herr Letsch. Allerdings glaube ich, dass Kanzlerin Merkel mit ihrem Vorstoß bezüglich der „Ehe für Alle“ anderweitige Absichten hegte. Sowohl die Grünen, die FDP, als dann auch die SPD haben sich rund 90 Tage vor der Bundestagswahl für die „Ehe für Alle“ stark gemacht, wohlwissend, dass nach Meinungsumfragen rund 75% der Bundesbürger dafür sind, dass gleichgeschlechtliche Paare im klassischen Sinn heiraten dürfen. Diese drei Parteien wollten also eine Divergenz zur konservativen Position der CDU/CSU aufbauen, um Wählerstimmen von liberal eingestellten Sympathisanten der „Schwarzen“ für sich selbst abzuzweigen. Angela Merkel hat allerdings den Braten gerochen und sich wohl gedacht , dass ein Angriff immer noch die beste Verteidigung ist. Hätte sie beharrlich und gewissenhaft auf der Ablehnung der Homoehe bestanden, so wäre für sie nichts damit gewonnen gewesen, da auch unter den Wählern von CDU&CSU -so schätze ich mal- mittlerweile eine große Mehrheit eine Reform des Ehebegriffs für zeitgemäß erachtet. Anderseits konnte sie aber nicht urplötzlich die „Ehe für Alle“ bejahen, weil sie ansonsten befürchten müsste, (zu Recht) als prinzipienlose, rückradlose, populistische, machtgierige Opportunistin geschmäht zu werden. Also „outet“ sie sich bei passender Gelegenheit als eine „Jedem Tierchen sein Plesierchen“-Kanzlerin und verkündet, dass sie zwar selbst natürlich(!) weiterhin treu hinter ihren christlichen Werten steht und sie die Einführung der Homoehe als eine Fehlentscheidung ansieht, sie anderseits aber auch ein toleranter, offenherziger Mensch ist, der nicht autoritär agieren will und sie es daher jedem Abgeordneten ihrer Partei ohne Fraktionszwang freistellt, nach seinem Gutdünken abzustimmen. Mit dieser Proklamation hat sie geschickt ihr Gesicht gewahrt und ganz gezielt dafür gesorgt, dass das Thema Homoehe innerhalb von nur ein paar Tagen(!) ratzfatz abgeräumt wurde und kein potentieller CDU/CSU-Wähler, der ein Befürworter der „Ehe für Alle“ ist, sich gezwungen sieht die Grünen, die FDP oder die SPD zu wählen, nur weil die CDU in der Frage stur ihre tradierte Einstellung verteidigt. Und wenn 75% der Deutschen sich für das „Kiffen für Alle“ aussprechen würden und die Gefahr bestände, dass konkurrierende Parteien ihr mit dem Thema Wählerstimmen klauen könnten, so würde sie in dem Fall die Cannabiswende mit einer genauso großen kaltschnäuzigen Selbstverständlichkeit ausrufen, wie sie es auch bei der Energiewende und jetzt bei der Ehewende gemacht hat. Ihre Taktik besteht darin, rechtzeitig das schnaufende Pferd zu wechseln, bevor es sich totgeritten hat. Diese berechnende Vorgehensweise hatte sie zu allererst im Fall der „Spendengeldaffäre“ angewandt, als sie mit ihrer Generalkritik an dem geschassten CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl die Mehrheitsstimmung in ihrer Partei, in den Medien und in der Bevölkerung aufgegriffen und zu Eigen gemacht hatte, um sich so geschickt höchstselbst zur neuen Bundesvorsitzenden mit der sauberen moralischen „Meine Hände, mein Herz und meine Gedanken sind rein“-Weste küren zu lassen. Im Nachhinein ein echtes Meisterstück der Machtpolitik. Mit Ausnahme der Flüchtlingskrise hat diese Methode auch hernach immer funktioniert. Im Herbst 2015 hatte sie aber fatalerweise die veröffentlichte Meinung mit der öffentlichen Meinung verwechselt. Dieser Irrtum hätte sie fast das Amt gekostet, wenn ihr türkischer Kollege Recep Erdogan ihr mit dem „Flüchtlingsrückhalteabkommen“ nicht noch in allerletzter Minute -plus der göttliche Fügung- dazu verholfen hätte, dass sie ihren Nimbus der alles überblickenden, vorauschauenden und verantwortungsvollen Politikern wahren konnte, die mit Bedacht ihre Entscheidungen trifft und die nicht zockt, um auf gut Glück immer auf der richtigen Stimmungswelle der Meinungsumfragen zu surfen, denn genau das(!) ist meines Erachtens der wahre Pudels Kern ihres Regierungshandelns.

    Ps. Es gibt nicht zwei, sondern drei Berufe, in denen das Einräumen eines eigenen Fehlers ein absolutes Tabu ist. A) Der Arzt, B) Der Richter und C) Der Regierungschef eines Landes. Wären die Verhandlungen in Ankara gescheitert, so wäre Angela Merkel in ihrer Funktion als Kanzlerin gezwungen gewesen vor die Kameras(!) der Presse zu treten und einzuräumen, dass man die deutschen Grenzen, entgegen ihrer vorherigen Behauptungen, durchaus mit BGS-Truppen rappeldicht schließen kann. Und das es nun auch absolut notwendig und möglich ist, alle die Dinge durchzuführen, die man vorher mit dem pathetischen Brustton höchster moralischer Empörung und Überlegenheit abgelehnt hatte. Welch‘ ein Eklat wäre das wohl gewesen? Diesen spektakulären, hochnotpeinlichen Offenbarungseid hätte sie politisch garantiert nicht überlebt, da bin ich mir ziemlich sicher.

    Pps. Mal Hüüh, mal Hott, mal Brrr, mal Galopp. Man kann es bei Wickipedia in der Einzelnachweis-Sammlung nachlesen, wie unglaublich oft Frau Merkel im Laufe der Jahrzehnte immer und immer wieder ihre Ansichten korrigiert hatte, um den Zeitgeist zu erhaschen. Ich will nicht absprechen, dass es etwas demokratisches in sich birgt, wenn die Führerin eines Landes auf die Art und Weise an dem Willen ihres Volkes antizipieren will, aber ob das wirklich etwas mit echter(!) Führung zu tun hat, wage ich indes zu bezweifeln. Sich immer der Zustimmung einer Mehrheit der Wähler gewiss sein ist schließlich nicht die Hauptaufgabe eines Staatslenkers. Eine Kapitänin Merkel, die auf der Brücke steht und vorher immer die Passagiere auf der MS Germania befragen lässt, wo und wie sie die Eisberge umschiffen soll, ist vielleicht nicht so die allerbeste Idee, finde ich.

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