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Ich will von einer Abneigung berichten. Einer ganz ausgeprägten Abneigung. Weil sich diese dem Außenstehenden aber sicher nicht so leicht erschließt, werde ich einige Zeit vor dem auftreten dieser Abneigung mit meinem Bericht beginnen. Mit meinem Elternhaus. Eigentlich ist es ja das Haus meiner Großeltern. 1949 steht mit kleinen Ziegelsteinchen am Schornstein geschrieben. Mein Großvater hat es nach dem Krieg gebaut. Die Steine dafür stammten aus den Ruinen eines eingestürzten Fabrikschornsteins. Beste Klinker, kein einziger rechteckig, alles Trapeze. Zwar war der „Abbau“ dieser Steine illegal und es stand nur ein kleiner Bollerwagen zur Verfügung, um die Steine vom fünf Kilometer entfernten Abbaugebiet zu fördern und das ging auch nur nachts – aber es wurde geschafft. So war mein Großvater schneller mit dem Transport als die Russen, die – wenig wählerisch – alles vom zerbombten Werksgelände wegschleppten, was ihnen wertvoll erschien. Die Steine ließen sie meinem Opa.

In diesem Haus, in dem ich meine Kindheit verbrachte, regierte meine Großmutter. Emsig wie eine Glucke und stets mit Kittelschürze achtete sie darauf, dass ich immer brav aufaß. „… denk an die armen Kinder in Vittamm…“ sagte sie stets. Ich fand es sehr ungerecht, dass ich mehr essen musste, nur weil die Kinder in Vietnam nichts zu essen hatten, vermutlich, weil ich ihnen alles weg aß. Auch passte Großmutter auf, das ich im Winter nicht die hübschen Eisblumen am Fenster mit meinem Atem zum schmelzen brachte und dass mein Großvater nicht zu lange mit mir in der Werkstatt zubrachte, wo er mich im Umgang mit Hammer, Meißel und Säge schulte. Es hatte auch wenig Sinn aus mir einen Handwerker zu machen: Für meine Vogelhäuschen interessierte sich nie ein Vogel und meine Boote wollten auch nicht schwimmen.

Besonders aufgeregt war meine Großmutter (die zeit ihres Lebens am Straßenrand liegende Kohlen und Kartoffeln auflas) immer dann, wenn Schlachtfest war.

Wir hatten zwar nie Tiere, die größer als Kaninchen waren, aber auf „so ein fettes Schwein“ wollte man dennoch nicht verzichten – auf dem Dorf wurde das mit einem befreundeten Bauern geregelt, man „teilte“ sich die Sau. Er stellte sie in seinen Stall und zog sie gegen Bares auf. Geschlachtet wurde gemeinsam, dazu bestellte man dann den Scholz (so hieß unser Schlachter) ins „Waschhaus“.

Das „Waschhaus“ ist der Ort, an dem das Schwein dann in die Wurst kommt, sagte Oma. Ich war noch zu klein um dort zu helfen. Zumindest in den ersten Jahren. Aber da das Schlachten immer ganz toll war und Oma häufiger als sonst von den armen Kindern in „Vittnamm“ sprach und wie gut wir es hier doch hätten wo wir ja heute schlachten täten, wollte ich so bald wie möglich auch helfen.

So wurde ich also größer und es konnte losgehen. Wer schon einmal einen Freund oder Verwandten nach einer schweren Operation im Krankenhaus besucht hat, dort in ein sauberes Zimmer kommt und das zufriedene Lächeln der Schwestern („…er hat es gut überstanden“) und der Ärzte („…es gab Komplikationen, aber wir konnten einen Dingsbums an sein Bumsdings legen und nu isses gut“) gesehen hat, der mag sich gar nicht vorstellen, wie das ganze abgelaufen war und welcher Art die Komplikationen gewesen sein mögen. Das Ergebnis zählt. Das Ergebnis meiner bisher nicht selbst erlebten Schlächtereien war leckere Wurst mit dem Gütesiegel „hauschlachten“. Das war schon was und überhaupt besser als der Kram aus dem Supermarkt. „Da hat doch der Bäcker gewonnen“ sagte unser Metzger verächtlich mit Blick auf die mutmaßlichen Inhaltsstoffe dieser Art „Wurst“. Nun aber sollte ich die Komplikationen kennen lernen.

Das erste Problem war, dass das Schwein nicht so einfach in die Wurst hineinwollte. Darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. „Das ist dann tot“, sagte Oma „und dann kommt es in die Wurst“. Der Metzger half dem Schwein mit einem Bolzenschussgerät beim Sprung in die Wurst und ich rannte entsetzt davon. Oma scheuchte mich wieder zum Richtplatz, wo mir der Metzger einen Quirl in die Hand drückte und „kräftig rühren!“ brüllte. Ich rührte also. Blut rührte ich. „Schneller, stärker, mach das richtig!“ brüllte der Metzger. „Du verdirbst es – da muss ordentlich Schaum drauf!“. Das war dann doch zuviel. Ich floh erneut, diesmal an meiner enttäuschten Oma vorbei.

Beim nächsten Mal wollte der Metzger meine Hilfe nicht mehr. „Der kann ja nicht mal’n Karnickel schlachten“ bemerkte er abfällig. Ich fand mich mit meiner Rolle als „halber Mann“ ab.

Das alles passierte, als ich etwa zehn Jahre alt war und deshalb verschwand das Erlebte auch langsam aus meinem Gedächtnis. Als mein Vater mich, viel viel später, in den Semesterferien fragte, ob ich ihm denn nicht helfen könne, beim schlachten, stellte ich dann auch nur zwei Bedingungen. Erstens, nicht im „Waschhaus“ und zweitens: Ich rühre kein Blut!

Das sei kein Problem meinte mein Vater. Der Metzger (ein anderer diesmal) würde bei sich zu haus ein eigenes Schlachthaus haben und Blut rühren… nein, das könne ich mir doch aussuchen. Und überhaupt solle ich nur immer an die schöne hausschlachtene Wurst denken dann würde das schon gehen.

Wir kamen halb sechs Uhr morgens am Schlachthaus an. Ich war müde und fühlte mich ziemlich flau. Gefrühstückt hatte ich in anbetracht des anstehenden Gemetzels nichts und der Hinweis meines Vaters, ich könne ja nachher „naschen“ verengte meine Speiseröhre zusätzlich. Es gab nun kein Zurück mehr, ich hatte zugesagt. Fortlaufen ging auch schlecht, denn wir waren irgend wo auf einem Dorf, das ich nicht mal kannte. Und im Alter von 20 Jahren vor einem toten Schwein davonlaufen ging schon überhaupt nicht. Ich redete mir also ein, das würde schon alles nicht so schlimm werden.

Wir begrüßen erst mal den Mezger. Klein ist er. Und dick. Gummistiefel, weiße Kittelschürze aus Quietschgummi und ein seltsam weicher, schwammiger Händedruck. Möglicherweise alles Innungsmerkmale. Vater erklärt in kurzen Worten meine Blässe, „…das der mir ja nicht umkippt“ murmelte der Metzger, „nein nein…“ beruhigt ihn mein Vater. Ich sagte nichts.

„Verabschiede dich schon mal von der Sau“ spricht der Meister und meint hoffentlich das Schwein. Er verschwindet mit meinem Vater um das Geschäftliche zu klären. Ich bin also mit der Sau allein. Sie in ihrem kleinen Käfig, ich mit meiner großen Angst. Ich habe der Sau irgend etwas erzählt, das steht mal fest. Vielleicht wollte ich sie beruhigen, sicher aber mich. Solange zumindest bis der Metzger mit großen Schritten auf uns zukam. Nun redete die Sau. Nein, sie schrie! Sie wusste Bescheid!

Die Augen des Metzgers leuchteten, als er die Sau an einer Vorderpfote festband und den Käfig öffnete. Sie wollte wegrennen, konnte aber nicht. Der Metzger hatte den Strick durch einen Ring im Mauerwerk gezogen und war nun doppelt so stark wie eine Sau. Er zog das Tier an die Wand, holte flink wie Copperfield das Schussgerät hinter seinem Rücken hervor und noch eh ich richtig sah, was er damit vorhatte gab es ein trockenes „Plopp“ – eine Mischung aus Stahlfeder-Entspannung und Knochen-Knirschen. Die Sau stand aber noch und musste umgeworfen werden. Was nun kam hatte ich wegen meiner hastigen Flucht in Kindertagen nicht mitbekommen: Das Tier zitterte! Heftige Krämpfe schüttelten die Sau, die offenbar immer noch nicht in die Wurst wollte. Kommandos wurden gerufen. Der Metzger sah das Entsetzten in meinen Augen und stellte mich vor eine grausame Wahl „festhalten oder Blut rühren“. Ich wollte das Tier auf keinen Fall berühren müssen, also wählte das, was ich kannte: Immer schön Schaum drauf! Sicher noch etwas blasser als eben noch rührte ich also Blut. Der Mörder holte sein Messer heraus, durchtrennte der Sau die Halsschlagader und lies die dampfende Flüssigkeit in einen Eimer laufen, den ich mit meinem Quirl malträtierte als könne er etwas für den Tod des Schweins und meine Lage. Meine innere Wut über meine Blödheit, mich auf die Scheiße eingelassen zu haben (freiwillig noch dazu) hielt mich davon ab, dem Metzger auf die Schürze zu kotzen. Anschließend zwei oder drei Korn zur Betäubung und frische Luft in einigen Metern Entfernung.

„Weiter geht’s, wir sind nicht zum saufen hier“ ruft der Meister von Eisbein und Schwarte. Ich folge ihm brav ins Schlachthaus.

Wabernde feuchte Wärme schlägt mir entgegen. Heiß muss es sein in so einem Schlachthaus. Die Kessel dampfen. Die Sau liegt ausgestreckt auf dem Tisch und wartet auf ihre Obduktion. Kochendes Wasser wird herbeigeholt und über das Tier geschüttet. Abbrühen nennt der Metzger das. „Die Borsten müssen runter“ sagt er etwas netter und drückt mir einen Trichter aus Messingblech in die Hand – „so macht man das“. Er schabt mit geübter Hand auf dem Schweineleib herum und sagt, ich solle mir das Kopfende vornehmen.

Der Geruch ist fürchterlich, aber die beiden Schnäpse beginnen zu wirken. Ich schabe. Liebevoll, vorsichtig. In meinem Morgenrausch frage ich ihn dann auch noch, ob es denn keine anderen Arbeiten für ein Weichei wie mich gäbe, so etwas wie Zwiebelschälen, Tütchen mit „MaggiFix für Blutwurst“ aufreißen oder das Telefonbuch vorlesen. Dem Metzger missfallen meine Rede, mein Arbeitstempo und wohl auch meine Demut vor der toten Sau. Er brummt nur und sucht offenbar nach neuen Gemeinheiten.

Ähnlich flink wie vorher mit dem Bolzenschussgerät ist er mit seinem Messer herbeigeeilt und mit geübtem Griff schnippelt er ratz-fatz ein Auge des Schweins heraus, mit dem die Sau mich eben noch beim schaben beobachtete. Die beiden Körner halten es nicht mehr in meinem Magen aus und ich stürze nach draußen.

Nachdem ich die verlorenen Schnäpse durch neue ersetzt habe und wieder etwas bei Atem bin, gehe ich wieder zum Schweinemörder. Nein du Arsch, ich werde nicht aufgeben! Ich steh das durch!

„Empfindlich, was?!“ sagt er zur Begrüßung. „Nee, geht schon. Kam nur etwa überraschend.“ gab ich zurück. Das hätte ich besser für mich behalten, denn nun sann er nach anderen Härtetests.

Die Sau wurde an den Hinterbeinen bis unter die Decke gezogen. „Stell dich hierher“ befahl der Metzger, während er mit seinem Messer einen schnellen Eröffnungsschnitt vom „Schambein bis zur Kinnwurzel“ vollführte. „Auf die Platte damit!“ Noch bevor ich fragen konnte was denn auf die Platte müsse, kamen mir auch schon die Innereien des Tieres entgegen, die er fachmännisch und unheimlich schnell aus der Bauchhöhle ausräumte. Das Gefühl, bis zu den Unterarmen in wabbelig weichen, warmen Schweineinnereien zu stecken, die noch keine Stunde vorher den letzten Pfurz getan hatten, war der Höhepunkt des Tages. Ich schaffte es aber „auf die Platte“, bevor ich mich zurückzog um den beiden Körnchen noch ein weiters hinzuzufügen und war somit schon vor sieben Uhr natterhart.

Von da an prallten die Späße des Metzgers von mir ab, zumal er seine Gemeinheiten nicht mehr steigern konnte (oder wollte: denn das reinigen und „wenden“ der Därme mir Amateur zu überlassen ging wohl über seine Berufsehre).

Eher teilnahmslos schnitt ich noch einige Zeit irgendwelche Teile in kleine und größere Stücke – wobei ich mich dauernd in die Finger schnitt. Das war aber nicht die Schuld des Alkohols! Die Messer waren wirklich derart scharf, dass die kleinste Berührung der Klingen sofort schnittige Folgen hatte. Ich sah anderentags aus, als hätte ich Wolverine im Fingerhakeln herausgefordert.

Der Metzger warf mich schließlich aus seinem Tempel weil ich es gewagt hatte, diesen durch essen einer Scheibe Brot zu entweihen. Da würde die Wurst schlecht meinte er. Auch gut. Draußen fühlte ich mich wohler und zwei Stunden warten bei minus 4 Grad sind ein kleiner Preis für frische Luft.

Als ich am nächsten morgen im Zug zurück an die Uni saß, konnte ich meinen Geruch nicht ertragen. Duschen, baden, wieder duschen – alles half nichts. Ich war Wurst. Es kam aus jeder Pore! Zumindest glaubte ich das. Denn jeder, den ich in den nächsten Tagen zum Geruchstest aufforderte sagte nur „du spinnst!“.

Der „Geruch“ verging nach einigen Tagen, der Ekel blieb. Ich kann bis heute keine Wurst essen, die das Prädikat „Hausschlachten“ trägt. Wurst mit Blut drin schon gar nicht. Am besten überhaupt keine Wurst. Und wenn, dann muss es eine Sorte sein, von der unser Metzger Scholz einst verächtlich meinte, darin hätte „der Bäcker gewonnen“.

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