Ich lebe in Deutschland, in Niedersachsen um genau zu sein. Es lebt sich nicht schlecht hier, der Alltag funktioniert ganz gut. Die Straßen sind meist recht brauchbar, Strom und Wasser fließen zuverlässig. Gesundheitssystem, Polizei, Justiz und Verwaltung tuen ihre Arbeit, viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich in unterschiedlichsten Bereichen. Kurz, dieses Land ist eigentlich ganz passabel. Etwas ausführlicher gesagt: Nein, perfekt funktioniert es natürlich nicht. Es gibt stets Bedarf, Dinge zu verbessern. Es gibt auch bei uns Korruption, Betrug, Raub und Mord. Und Religion, die gibt es auch. Jede Menge davon. Nicht immer unangenehm.

Sieht man nur die positiven Aspekte Deutschlands, kommt man zu dem Schluss, dass die Menschen, die derzeit regelmäßig aus Protest auf die Straße gehen, die Lage einfach komplett falsch einschätzen und die Vorzüge unserer Gesellschaft unberechtigterweise geringschätzen. Aber auch ich habe das ungute Gefühl, dass irgendetwas momentan gehörig schief läuft. Ich glaube, es ist nicht mal was Großes, es kann auch etwas ganz Kleines sein. Ein Splitter nur, den wir kaum sehen, den wir aber schon spüren.

Woher nur kenne ich dieses unbestimmte Gefühl?

Aus der DDR, glaube ich. Die Polarisierung in Gut und Böse, das Lagerdenken, entweder Nazi oder Kommunist sein zu müssen, das Gefühl, zu ersticken. Nicht nur an der schlechten Luft, sondern an den Konventionen, dem Eingesperrt sein, auch der Langeweile. Fragte man, ob da nicht noch etwas Anderes sein könne, hieß es nur „…bei uns hat jeder Arbeit und die Krippenplätze sind umsonst – worüber beklagst du dich also!“. Diese „Kleinigkeit“, Herr Gauck würde es sicher staatstragend Freiheit nennen, fehlte aber. Gut, dass die meisten Ostdeutschen diese „Kleinigkeit“ am Ende doch vermisst haben und die Notbremse zogen. Auch heute sind es wieder nur „Kleinigkeiten“, die sich verändert haben und nun das Gesamtbild trüben. Ob etwas fehlt oder zu viel vorhanden ist, lässt sich oft nur sehr vage beschreiben.

Es gab in der DDR zum Beispiel ein Thema, das fester Bestandteil jedes offiziellen Diskurses war. Egal ob in der gleichgeschalteten Presse, der Mitgliederversammlung der Taubenzüchter oder einem Symposium über anorganische Chemie – die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, deren überragende Rolle bei Allem und Jedem, ihre Unfehlbarkeit, die Errungenschaften, die Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Das Äquivalent zu dieser Hybris stellt heute die EU-Besoffenheit vieler Politiker dar, die nicht hinterfragt werden soll, die in jedem politischen Diskurs einfach immer mitschwingt.

Ein anderes ewiges DDR-Thema war die „unverbrüchliche Solidarität mit den unterdrückten Völkern der Welt“, etwas, das man einfach mal so glauben sollte, weshalb man auch von Religionsersatz sprechen kann – und wir genau beim Thema sind, der Religion und der mit ihr assoziierten „Political Correctness“.

Früher…

Können Sie sich erinnern, wann etwa in den 90ern ein Politiker öffentlich und lautstark in die Bresche sprang, um einer „bedrängten Religion“ beizustehen? Mitgliederschwund in den großen Kirchen, Diskussion über Religions- oder Ethikunterricht an den Schulen, Empörungen über Alimentierungen des Klerus, erste Missbrauchsskandale. Johannes Paul II. war noch kein Heiliger und musste sich besonders von der Linken maßregeln lassen, wie schäbig er die Befreiungstheologen Mittelamerikas behandelt hatte und wie uncool seine Haltung zu Empfängnisverhütung und Abtreibung war. Der Kölner Kardinal Meissner war gern gesehener „Gast“ auf den Motivwagen am Rosenmontag und christliches Fasten ab Aschermittwoch war Hochsaison für verrückte Diät-Ideen und Schokoladenverzicht.

Dann kam der 11. September 2001 und alles war anders. Seit diesem Tag bestimmt eine einzige Religion die Debatte in Deutschland, der Islam. Der Islam war plötzlich der universelle Maßstab für Toleranz, für Demokratie, für Gastfreundschaft, für Demütigung, für Nationalismus, für Sozialstaat und ziviles Zusammenleben geworden. Menschen, die mit Religionen nichts am Hut haben, müssen heute darauf achten, religiöse Gefühle nicht zu verletzen. Träger katholischer Gesundheitseinrichtungen, die es teils schon seit Jahrhunderten gibt, reiben sich verwundert die Augen, weil die in ihren Räumen hängenden Kreuze plötzlich als unangemessen gelten und von muslimischen Patienten von der Wand gerissen werden. Weihnachtsmärkte werden zu respektvollen Wintermärkten, die Tage, da das Schwein noch als Glückssymbol in Deutschland galt, scheinen gezählt und Versicherungen stufen Karikaturisten in eine höhere Risikogruppe als blinde Hochseilartisten.

Die Trennschicht

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ist stolz. Ein guter Kompromiss sei es geworden, der Staatsvertrag mit den Muslimen sei unter Dach und Fach. Dieser Staatsvertrag enthalte nichts Neues, erklärt Weil. Er fasse aber die bestehende Rechtslage zusammen. Ich frage mich, Herr Weil, was es in einem Staatsvertrag zu regeln gibt, wenn dieser eigentlich nichts regelt. Warum die Verhandlungen mit den großen Islamverbänden, wenn bereits alles geklärt ist?

Warum ein Staatsvertrag auf Landesebene, wenn bereits das Grundgesetz das Recht auf freie Religionsausübung hinreichend und unverrückbar schützt? Bekommt demnächst jede Bäcker-Innung ein Gesetz geschrieben, in dem alles zusammengefasst steht, was Bäcker so alles dürfen und müssen? Und die Konditoren auch? Was ist da in Niedersachsen passiert?

Ungeheuerliches! Sie und Ich, liebe Leserin, liebe Leser, treten dem Staat als Bürger gegenüber, ausgestattet mit Bürgerrechten. Ob sie Protestant, Katholik, Bahai oder Atheist sind, ist dem Staat völlig egal. Muslime in Niedersachsen, Bremen und Hamburg haben aber eine Doppelpersönlichkeit. Sie sind Bürger vor dem Grundgesetz und Muslime per Staatsvertrag, also gewissermaßen doppelte Rechtspersonen, Bürger 4.0, Muslimbürger oder Bürgermuslime. Durch solche zwischengeschobenen Gesetzesebenen etabliert man langfristig gewissermaßen ein Gleitmittel, auf dem man Parallelgesellschaften beliebig in andere Richtungen bewegen kann. Hier ein Gesetz, dort eine Ausnahme, da eine Unklarheit, die der Staat nicht regeln mag, die Scharia aber schon. Man gibt die Verantwortung an die Zwischeninstanz ab, weil diese sich bereitwillig anbietet. Ganz gleich, was der betroffene „Grundgesetzbürger im Staatsvertragsmuslim“ davon halten mag.

Wir reiben uns die Augen und fragen uns angesichts zahlreicher Gerichtsurteile, seit wann denn elementare Bürger- und Menschenrechte in Deutschland nicht mehr universell gelten. Was haben wir verpasst? Wenn ein Gericht in Bamberg etwa entscheidet, dass die Ehe mit einem 14 Jahre alten Mädchen in Deutschland rechtens ist, weil sie in Syrien geschlossen wurde. Oder wenn ein anderes Gericht entscheidet, dass die plötzlich aufgetauchte Zweitfrau des Verstorbenen Anspruch auf die Hälfte der Witwenrente hat. Ob die Lautsprecher von Linke und Grünen bei ihrer Forderung nach schnellstmöglichem Familiennachzug auch an die Dritt- oder Viertfrauen der Neuankömmlinge denken? Liest eigentlich noch jemand die EMMA, oder ist die in den Auslagen der Kioske bereits verschwunden, weil man muslimische Kopftuchträgerinnen nicht provozieren möchte?

Aber die Feministin von heute liest als perfekte Gastgeberin sowieso lieber in Koran und Scharia. Jede evangelische Grundschullehrerin aus Düsseldorf weiß heute mehr über die Regeln des Ramadans, als ein türkischer VW-Gastarbeiter in den 60er Jahren, der sich beim Griechen um die Ecke nach der Schicht immer ein oder zwei Raki unter den Schnäuzer kippte. Wenn es biodeutsche Jugendliche anlässlich ihrer Konfirmation sonntags etwas zu sehr krachen ließen, meldeten die Eltern am darauffolgenden Tag eine „Erkältung“ an die Schule, heute machen sich die Lehrer während des Ramadans Gedanken, um den ausgehungerten und dehydrierten Jung-Muslimen längere Pausen und Ruhezeiten anzubieten.

Die Neue Presse in Hannover rät: „Wollen Eltern um besondere Rücksichtnahme während des Ramadans bitten, tun sie das am besten im Verbund: „Eltern haben die besten Karten, wenn sie sich mit anderen zusammenschließen und nicht nur mit ihrem Kind als Einzelfall argumentieren“, …. Gemeinsam können sie versuchen, erweiterte Unterrichtspausen oder das Einrichten eines Gebetsraums durchzusetzen.“

Früher taten sich Eltern zusammen, um Klassenräume zu renovieren, den Pausenhof umzugestalten, die Einstellung neuer Lehrer zu fordern oder für die Einrichtung eines Computer-Raumes zu kämpfen. Heute räumen sie widerspruchslos einer Religion – und zwar genau einer – das Feld und helfen dem Laizismus noch beim packen. Denn darauf läuft es immer wieder hinaus, wenn es um Gebetsräume geht. So geschehen an der TU Dortmund, wo aus dem für alle Studenten eingerichteten „Raum der Stille“ erst unverschleierte Frauen und dann alle Nichtmuslime hinausgeworfen wurden. Seltsam nur, dass erst die Schließung des Raumes von den Muslimen als Diskriminierung und islamophober Angriff verstanden wurde. Diskriminierung, so lernt der Muslim hierzulande, ist immer das Unrecht, das er – und nur er – als solches empfindet!

In Großbritannien ist man übrigens schon einen Schritt weiter. Dort dürfen sich muslimische Angestellte schon seit 2008 weigern, Christen eine Bibel zu verkaufen. Christen dürfen sich dort allerdings nicht weigern, Muslimen den Koran zu verkaufen. Der Grund: die Bibel sei aus islamischer Sicht ein „unreines Buch“, der Koran aus der Sicht der Christen aber ein heiliges Buch. Das akzeptiert auch die britische Rechtsprechung.

Gesagt, gemeint, geträumt

Seit Christian Wulf sagte, der Islam gehöre zu Deutschland, empören sich immer wieder Menschen, wenn jemand Zweifel an dieser These vorbringt. Die epidemische Neigung, Dinge möglichst in maximal fünf Worten auf den Punkt bringen zu wollen („Hauptsätze, Hauptsätze…“), hat dafür gesorgt, dass hinter dem Komma niemand mehr so genau hinschauen mag. Ist ja auch bequemer so. „Der Islam ist ja da. Der Islam gehört also zu uns. Ist doch so.“ Das ist aber nicht das, was gemeint war. Es gibt in Deutschland Hochwasser, Rheuma und Stechmücken – ist doch auch so. Sprechen Sie aber mal den Satz „Rheuma gehört zu Deutschland“ laut aus und erwarten dann noch Applaus von den Nicht-Rheuma-Geplagten. Gesagt ist eben nicht gleich gemeint. Aktuell beschränkt sich der Beitrag des Islam zu unserer Demokratie auf Abgrenzung, Sonderregeln, Parallelgesellschaften und permanentes beleidigt sein. Recht dürftig, wie ich finde. Nichts, was dieses Land auch nur einen Millimeter voranbringt.

Heinz Buschkowsky, den ehemaligen Bürgermeister von Berlin-Neukölln gab der Augsburger Allgemeinen Zeitung am 4.3.2015 ein Interview. Bemerkenswert ist seine Antwort auf die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört: „Das Christentum und das Judentum waren über Jahrhunderte unsere Impulsgeber bei der Entwicklung von Ethik, Kultur und Moral. Der Islam ist heute Teil unserer Lebenswirklichkeit und auch ein wesentlicher Einflussfaktor. Ich sehe aber nicht, dass er einen ähnlichen Beitrag zur Entstehung der Bürgerrechte, des Humanismus und der Aufklärung geleistet hätte.“

Besser hätte ich es auch nicht sagen können. Leider ist Christian Wulf diese Erklärung nicht eingefallen, hinter dem Komma wäre noch Platz gewesen.

Aber der Fußball!

Ich sehe ihn kommen, den Einspruch. Jetzt, da EM ist: „Im Fußball funktioniert sie doch, die Integration! Warum dort und nicht anderswo? Özil, Khedira, Lieblingsnachbar Boateng*, Mustafi – alles Muslime, Topspieler, Weltstars, Vorbilder und auch noch Deutsche!“

Absolut richtig! Es ist eben alles eine Frage der Rahmenbedingungen – und der Regeln! Für muslimische Spieler gibt es keinen Migrationsbonus. Ob sich die Gebetszeiten mit den Spielzeiten überschneiden, interessiert niemanden. Keine Ausnahmen, für Garnichts! Im Fußball zählt ausschließlich die Leistung, die auf dem Rasen erbracht wird. Abseits ist Abseits und ein Foul wird auch gepfiffen, wenn der Spieler eine schwere Kindheit hatte. Kein Gebetsraum für Boateng*, keine längere Halbzeitpause im Ramadan für Mustafi. Keine Staatsverträge für Khedira und Özil, nur Verträge, wie alle Spieler sie haben.

Es wird höchste Zeit, dass in unserem Rechtssystem wieder ähnlich klare Regeln gelten, wie im Fußball. Dann können wir uns in Zukunft auch Debatten darüber schenken, ob eher der Islam oder doch der Rheumatismus zu Deutschland gehört.

 

* Nachtrag: Auch wenn Jerome Boateng kein Muslim, sondern Christ ist, bekommt er keinen eigenen Gebetsraum. Allerdings gebe ich gern zu, mich im Fußball nicht wirklich auszukennen und nie im Leben eine Leidenschaft für Panini-Sammelbildchen entwickelt zu haben. Gibt es da drauf vielleicht einen Punkt Religion? Gleich unter Schuhgröße? Vermutlich liege ich aber richtig in der Annahme, dass in Jogi’s Aufstellung die Religionszugehörigkeit generell kein Rolle spielt – und so sollte es auch sein.  >> hier weiterlesen!

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5 Kommentare

  1. Insbesondere die letzten beiden Abschnitte zeigen sehr gut das tatsächliche Problem. Nicht die Gäste/Migranten/Migrationswilligen, die ein völlig anderes Rechts- und Selbstverständnis(*) mitbringen sind das eigentliche Problem, sondern hauptsächlich die hier lebenden Bürger/Behörden/Politiker/Gesellschaft, die diese Gäste nicht dem gleichen Massstab wie alle anderen unterziehen, ihnen nicht Ausnahmerechte/-regeln zugestehen, also bei Bedarf massregeln, bei groben Vergehen ihnen nicht die Tür weisen oder den Einlass verwehren. Wer so plan-, ziel- und konzeptlos mit Gästen umgeht, bleibt zu Recht nicht lange Herr im Haus und sein Haus versinkt im Chaos oder erhält neue Regeln.
    (*) Bewunderns- und nachahmenswert selbstbewusst und durchsetzungsstark! Im Gegensatz dazu das Auftreten vieler hiesigen Menschen leider oft erbärmlich, sich duckend, sich nicht der eigenen Werte/Leistung bewusst, teilweise sogar von Selbsthass/falscher Selbstkritik zerfressen.
    @Simon Templar: Ich habe mich lange über diese Entwicklung geärgert, bis ich eingesehen habe, dass eine Gesellschaft, die sich so verhält absolut nicht meine Grundwerte vertritt. Das tönt auf den ersten Blick pessimistisch. Aber seit ich akzeptiert habe, dass ich nicht für etwas kämpfen muss, das die Mehrheit nicht will und nachfolgende Generationen die Möglichkeit haben auszuwandern, fühle ich mich nicht mehr schuldig oder schlecht bei dieser Entwicklung.

    • Ich HOFFE, dass die Mehrheit das nicht will, bin mir aber manchmal nicht so sicher. Die nächsten Landtagswahlen geben bestimmt einen besseren Gradmesser ab als unsere Medien.
      Ausserdem, wieso soll ICH und meine nachfolgende Generation das Land, in dem ich geboren bin, die Region, in der ich aus Überzeugung lebe, den Kontinent, den ich von allen am meisten schätze, auswandern? Da geht mir schon aus Prinzip der Hut hoch.
      Aber Sie haben Recht, es wäre für mich eine reeller Ausweg aus der allgemeinen Verdummung, und das ist mehr, als die meisten meiner Mitmenschen für sich in Anspruch nehmen können.
      Hoffen wir, dass sich am Ende doch noch Vernunft und gesunder Menschenverstand durchsetzt.

    • Mag sein, im Grund befasse ich mich nicht mit der Religionszugehörigkeit von Menschen, die in diesem Land etwas beitragen. Die steht immer nur dann zur Diskussion, wenn es etwas zu verteilen gibt oder es gilt, sich abzugrenzen.

  2. In der Tat. Allerdings stelle ich bei mir fest, dass ich langsam müde werde im Kampf gegen die Windmühlen der politisch- und gendergerechten.

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