Mehr als zehn Jahre Russischunterricht haben es nicht vermocht, anwendbare Spuren oder brauchbare Vokabeln in meinem Kopf zu hinterlassen. Es half alles nichts, ich stand Zeit meines Schüler- und Studentenlebens mit dieser Sprache auf Kriegsfuß und die Beweise meiner verlorenen Schlachten verunzierten mit großer Hartnäckigkeit meine Zeugnisse. Begeisterung kam schon angesichts der Inhalte nicht auf, die man uns auf Russisch vorsetzte. Denn statt Puschkin gab es Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ und statt Dostojewski lasen wir Planerfüllungsgejubel in alten Ausgaben der „Prawda“. Öde kommunistische Heldengeschichten von klassenbewusstem Opfertod und Propaganda, die man genauso gut auch muttersprachlich im „Neuen Deutschland“ bekommen konnte. Die Sowjetunion war für mich eine ins gigantische vergrößerte Version der DDR, nur mit mehr Pathos, Siegerpose, Atomwaffen, Samowar und kyrillischen Schriftzeichen.

Wozu auch sollte man Russisch benutzen, wenn man nicht gerade Sehnsucht nach Sibirien verspürte? Kosmonaut wollte ich ja auch nicht werden. Die östlichen Nachbarn der DDR waren auch nicht gerade erfreut, wenn man sie in der Sprache des „großen Bruders“ ansprach. In Polen hätte solch ein Versuch leicht mit einem ausgeschlagenen Zahn enden können. Und selbst wer noch nie etwas von den Massakern der roten Armee an polnischen Offizieren in Katyn gehört hatte, bekam Dank Solidarnosc Anfang der Achtziger eine gute Vorstellung davon, warum die Polen sogar noch größere Probleme mit „den Freunden“ hatte, als wir. Die universelle Sprache der Verständigung im „Warschauer Pakt“ war –  abseits offizieller und militärischer Kommunistenbesorgungen – schon damals das Englische. Russisch? Nein, danke!

Meine Abneigung gegen alles Russische hatte die DDR um ein paar Jahre überlebt und es ist Dostojewski und einigen sehr angenehmen (echten) russischen Freunden zu verdanken, dass sie nun nichts Prinzipielles mehr hat. Denn interessanterweise kam es in meiner Generation erst nach dem Ende der DDR zu echten Begegnungen mit Russen, was ob der Tatsache seltsam erscheint, dass die Russen „die Freunde“ der DDR waren.

Es gab jedoch eine positive Ausnahme in meiner Beziehung zum Russischen, die klassische Musik. Und hier wiederum war und ist es besonders ein Komponist, dessen Todestag sich am 5. März zum 64. mal jährt: Sergei Prokofjew. Ihm möchte ich heute in wenigen, dem Genius seines Werkes in keiner Weise angemessenen Worten gedenken.

Ersten Kontakt mit Prokofjew bekam man bereits im Musikunterricht in der DDR und rückblickend muss ich sagen, dass die geniale Rollenverteilung über die Charakteristika der Musikinstrumente in „Peter und der Wolf“ perfekt geeignet ist, Kindern nahe zu bringen, wie Musik im Kopf lebendig werden kann. Prokofjews Talent, Gefühle jeder Art in Noten zu verpacken, zieht sich durch sein gesamtes Werk. Es dauerte aber einige Jahre, die ich eher mit Depeche Mode, The Police und Kate Bush verbrachte, bis mir ein weiteres seiner Stücke begegnete. Diesmal eines für Klavier, dem Instrument, für das Prokofjew am liebsten schrieb. Es beginnt tapsig, fast stümperhaft und erinnert an vorsichtige, ungelenke Schritte im Dunkeln um nach wenigen Minuten in einem Feuerwerk aus rasenden Läufen und Glissando zu enden: „Suggestion diabolique“, ein wirklich passender Name für dieses wilde kleine Stück Musik aus der frühen, der vorrevolutionären russischen Schaffensphase des Komponisten. Meine Neugier war geweckt und bei Prokofjew gab es viel zu entdecken.

Sergei Prokofjew, 1891 im russischen Zarenreich als Sohn eines Gutsverwalters geboren, verließ 1918 in Folge der Oktoberrevolution Russland, ging erst in die USA und später nach Frankreich. Er galt als einer der besten Komponisten, Pianisten und Dirigenten der Epoche und seine Konzertreisen führten ihn 1927 auch zurück in die Sowjetunion Stalins. Wenn es darum ging, prominente Künstler und später auch Sportler an sich zu binden, um dem trostlosen Weg des Sozialismus besonders nach außen ein kreatives und fröhliches Bild zu geben, war Stalin nicht weniger talentiert als Honecker. Stalin schmeichelte, Stalin warb. Prokofjew vermisste seine russische Heimat, was sich auch auf seine Musik auswirkte. Ihm war im Ausland die Sicherheit im Leben und damit auch sein musikalischer Sarkasmus verloren gegangen, wie man ihn etwa noch 1912 in seiner Toccata (Op. 11) finden kann – bald nach seiner Rückkehr in Stalins Hände sollte ihm auch noch das Lachen abhanden kommen. Als er Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts nach Russland zurückkehrte, dass jetzt Teil der Sowjetunion war, versuchte er, dem „gesellschaftlichen Auftrag“ gerecht zu werden, den Stalin allen seiner Untertanen erteilte – Künstler bildeten da keine Ausnahme. Immer wieder gab es Spannungen zwischen Prokofjew und seinen Kritikern aus dem Umfeld von Stalin. Zu formalistisch sei der Künstler, lege mehr Wert auf Form als auf Inhalt. Die Kunst im Sozialismus diene schließlich nicht profaner Unterhaltung und Gefühlsduselei, sondern dazu, dass sich die Hand des Bauern fester um den Stiel der Hacke schließ und der Arbeiter fröhlicher den Hammer schwingt. Alles zum Wohle des Sozialismus! Immer wieder versuchte Prokofjew, sich den Forderungen zu beugen und noch klarere, „volksnähere“ Stücke abzuliefern. Kamen in der Anfangszeit seiner „Sowjetischen Phase“ noch Meisterwerke wie das Ballett „Romeo und Julia“ zustande, klingen viele der späteren Stücke unter Stalin schon sehr verzweifelt und eingeschüchtert.

Es gibt aber eine Ausnahme, die wie eine trotzige Strähne aus seinem glatt gekämmten Spätwerk herausragt. Das Vivace am Ende der 8. Klaviersonate, Op 84. Dieses Stück, etwa um 1944 entstanden, erscheint wie ein zehnminütiger Schnelldurchlauf durch Prokofjews Biografie. Erst kraftvoll und selbstbewusst, dann unsicher und eingeschüchtert, dann wieder trotzig und mutig. Der Krieg klingt an, die Angst, das Gezerre um seine Kunst und die Forderungen von Stalins Zensoren, denen der Komponist in Sonate 8 stellenweise frech mit „Dienst nach Vorschrift“ zu antworten scheint, was einige Stellen der Sonate absichtlich ins alberne dreht. Er erlaubt sich sogar, Momente tödlicher Langeweile einzubauen. Was Prokofjew gegenüber seinen Zensoren und Wächtern mit Worten nie wagte, verpackt er in diese zehn Minuten wunderbarer Klaviermusik. Er ahnte wohl, dass seine Kritiker nicht das Zeug haben würden, ihn dafür „dran“ zu kriegen.

Stalin und Prokofjew starben am selben Tag, dem 5. März 1953 in Moskau. Nur einer von beiden verdient in meinen Augen den Respekt und die Ehrungen, welche viele Russen heute wieder lieber dem anderen zuteilwerden lassen. Zu Prokofjews Beerdigung fanden sich 1953 nicht einmal ein paar lausige Blumen, weil alle Blumen in Moskau das Grab des Schlächters Stalin schmückten. Aber diese Blumen sind verwelkt und zu Staub zerfallen, genau wie das einst peinlich euphorische Bild Stalins in der Wahrnehmung linker Parteien. Prokofjews Musik ist für die Ewigkeit. Blumen braucht es dafür gar nicht.

Musik zum Text

Hören Sie sich neben Sonate 8, Op. 83 unbedingt einige seiner Werke aus der „russischen Phase“ an. Die Toccata Op. 11 spielt kaum jemand so ausdrucksstark wie Martha Argerich. Vom Klavierkonzert Nr. 1 gibt es eine wunderbare Einspielung mit Andrei Gavrilov und das zweite Klavierkonzert haben die Berliner Philharmoniker 2007 mit Yundi Li am Piano aufgenommen – zum niederknien!  

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2 Kommentare

  1. Lieber Roger.
    Ich bin zwar immer noch bei Kate Bush, Wishbone Ash! und Blach Sabbath stehen geblieben, aber mein Interesse ist geweckt. Zumindest kenne ich schon mal „Peter und der Wolf“.

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