Es gibt Texte, die sind so knackig und treffend formuliert, dass man sie am liebsten Absatz für Absatz kopieren und das Ergebnis für eigenen Hirnschmalz ausgeben würde. Schließlich ist alles wie es gesagt ist gut gesagt und kann auch nicht besser in Worte gefasst werden. Doch ich widerstehe diesem lockenden Honig, selbst wenn die kulturell tonangebenden Grünen ihn zwecks Selbstverteidigung zum Brotaufstrich unserer Zeit erklären, will ich lieber nicht davon naschen und gebe gleich zu, dass in diesem Artikel mehr Alexander Grau zu Wort kommt als ich selbst. Das fängt schon mit dem Titel an, der stammt nämlich auch aus Graus kleinem Essay in der NZZ, der etwas sperrig mit „Erlöst wird nur, wer Grenzwerte einhält: Die alten Götter haben wir entthront, umso eifriger glauben wir an neue“ überschrieben ist.

Die enthaltene Formulierung „Tribunalisierung des Alltags“ beschriebe meiner Meinung nach deutlich besser die allgegenwärtige und bis in die letzten Winkel zwischenmenschlicher Kommunikation gehende Spaltung in Freund und Feind, weil es nicht mehr um Debatten und den Austausch von Ideen geht, sondern um Anklagen, die Unterbindung jeder Verteidigung, Verurteilung und Hinrichtung.

Grau ist dem neuen Dogma auf der Spur, welches dem mittelalterlichen religiösen Dogma sehr ähnelt: dem Dogma der Unfehlbarkeit der Wissenschaft, welches von den Adepten der neuen Religion als „gefühlte Gewissheit“ verteidigt wird. Fundamentalistischer Glaubenseifer ist wieder der ganz heiße Scheiß! Die Grenzen verschwimmen zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Interpretation, denn letztere wird vom Experten gleich mitgeliefert.

„Also verbindet der Experte seine empirischen Kenntnisse mit normativer Einschätzung. Wissenschaftliche und moralische Sprache beginnen ineinander zu verschwimmen.“ […] „Aus jeder Messreihe wird ein Vorwurf, aus jeder Beobachtung eine Anklage, aus jeder Studie eine Mahnung.“

Der neue Fetisch, um den sich alles dreht, sei der Grenzwert, den die modernen Glaubenskriegern und deren Priester, die Experten, stets parat hätten und an dem das Seelenheil messbar ist.

„Man [könnte] den Schluss ziehen, dass das Projekt Aufklärung krachend gescheitert ist. Der Glaubenseifer hat in den letzten zweihundert Jahren kein bisschen nachgelassen. Nur die Glaubensinhalte haben sich gewandelt. Man glaubt nicht mehr an Gott, Himmelfahrt und Auferstehung, sondern an Diversität, Klimaprognosen und Inzidenzen.“

Und zwar mit derselben Kompromisslosigkeit und einem Eifer, der nach Belohnung und Lossprechung verlangt.

Der Versuch, das kritische Bewusstsein auszuschalten, bedient sich des Jargons der Aufklärung. Wer dem Experten und seinem moralischen Framing folgt, fühlt sich daher nicht als Gläubiger, sondern als Verfechter von Wissenschaftlichkeit und Rationalität.

Aber glauben muss er doch, der Gläubige, denn das Wissen, die Messungen, Schlussfolgerungen und Thesen sind ihm höchstens empirisch oder über die Predigten der Experten zugänglich. Das Wissen – valides oder moralisch gefühltes – haben andere.

„Und auch die Neigung zur Toleranz hat über die Jahrhunderte keinesfalls zugenommen. Schon die Wiederkehr der totgeglaubten Figur des Leugners in neuem Gewand ist verräterisch. Galt einst der Gottesleugner als Verkörperung tiefster Verwerflichkeit, so erzeugen nun Klima- und Corona-Leugner allgemeine Empörung. […] Der dabei zwangsläufig entstehenden kognitiven Dissonanz versucht man zu entkommen, indem man die eigene Mehrheitsmeinung in eine Außenseiterposition umdeutet.“

Mit der von Grau definierten Schablone auf die Wirklichkeit losgelassen, weiß man eigentlich gar nicht, wo man anfangen soll. Auf so gut wie jedes Feld der „Political Correctness“ ließe sie sich drücken und der Schlüssel, die Aussage „Der eigene Opportunismus wird zum heroischen Widerstand“ passte fast immer. Überhaupt ist die verdrängte eigene Opportunität ein guter Indikator dafür, ob man tatsächlich heldenhafter Aktivist der ersten Stunde ist, der mit „Skin in the Game“ selbstlos für eine Sache eintritt, oder doch nur der willige und hirngewaschene Helfershelfer, der auswendig gelernte Parolen einer politischen Einheitsfront repetiert.

Doch für den Klimaschutz, für Lockdowns, für Kniefälle und regenbogenfarbene Stadien, für die Ächtung Ungarns, gegen Trump, Bolsonaro und Johnson sind heute praktisch alle relevanten Medien, NGOs, die Kirchen, Parteien, EU und Regierung gern zu haben. Mutig an diesen Fronten zu „kämpfen“ ist wohlfeil bis kostenlos. Niemand kann sich die Finger verbrennen, Fehler machen, seine Kritik überziehen und hat deshalb Konsequenzen zu gewärtigen. Es ist der billigst zu habende Dünkel des Opportunismus. Auf Linie gebürstete drei Minuten Hass im orwellschen Panoptikum populistischer Triebabfuhr.

Nagelprobe des Opportunismus

Ich schlage eine groß angelegte Umfrage unter den Aktivisten und Lautsprechern vor, die nur eines in Erfahrung bringen möge: „An welcher Stelle befinden sie sich in Opposition zum Establishment? Also den Medien im Allgemeinen und der Marschrichtung von Regierung und EU in den gesellschaftlichen Großthemen Klima, Migration, Wirtschaft, EU-Vertiefung und Energiewende im Besonderen.“ Und ich meine jetzt nicht, dass es dem einen oder anderen zu schnell oder zu langsam geht, sondern prinzipielle, inhaltliche Opposition. Da wird bei den Aktivisten nicht viel Opposition übrig bleiben.

Doch ich wette, fragte man dieselben Leute danach, wie sie wohl zwischen 1933 und 1945 gehandelt hätten, wenn Gen „Z“ damals schon auf der Welt gewesen wäre, ob sie ihre Nachbarn denunziert oder weggesehen hätten, als Menschen aus ihrer Mitte verleumdet, herausgerissen, entrechtet, enteignet und ermordet wurden,… ich glaube, so gut wie jeder wäre fest der Meinung, er hätte solches unmöglich zugelassen! Man hätte sich doch widersetzt, wäre dagegen gewesen, hätte protestiert, Artikel geschrieben oder notfalls diesen kleinen irren Österreicher mit bloßen Händen…ganz sicher! Sicher? War die Gewissheit unter unseren Landsleuten nicht groß, dass das alles schon seine Berechtigung habe und dass die Richtung gar nicht falsch sein könne, weil doch die Mehrheit…was soll schon schief gehen?

Wo ist heute die Opposition zur Regierung, wo die gewisse Grundskepsis, die man für wirksame Kontrolle braucht? Überall nur affirmatives, zustimmendes Getöse. War es in Nazideutschland nicht „common sence“, all das brav zu exekutieren, was gerade gesellschaftliche Norm war oder zur neuen Norm erklärt wurde? Konnte man damals nicht auch viel gefahrloser für als gegen das Regime demonstrieren? Ich will den Vergleich hier nicht zu weit treiben, mir geht es lediglich um die Kosten der Opportunität im Vergleich zu den Kosten der Opposition. Letztere waren damals zweifellos höher als heute und wurden meist mit dem eigenen Leben bezahlt. Doch zum Zweck der Anhänglichkeit an das System braucht es damals wie in „1984“ wie heute das Ventil eines Kampfes gegen vermeintlich bedrohliche innere und äußere Feinde. Klingeln da nicht alle Alarmglocken? Womit wir endlich bei der Tribunalisierung wären.

„Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit“, zitiert Alexander Grau den Philosophen Odo Marquard. Wenn das „vor allem“ auch einschränkend wirkt, kann jeder seine eigene Mündigkeit recht gut prüfen, indem er oder sie sich fragt, wo die ehrlich geäußerte Meinung im politischen Diskurs prompt zur Vereinsamung führen würde. Passen Sie Ihre „Meinung“ an das Umfeld einer Diskussion an? Sind Sie derjenige, der „aber“ sagt, wenn alle um Sie herum auf Orban, Trump oder dem Dieselmotor einprügeln? Trauen sie sich, einen differenzierten Gedanken über Bolsonaro zu äußern, ohne ihn vorher mit „Rechtspopulist“ zu kennzeichnen? Korrigieren Sie einen empörten Redner, wenn er ein ungarisches Gesetz als LGBTQ-feindlich bezeichnet und erklären, dass es darin explizit um den Schutz Minderjähriger geht und keinerlei Einschränkungen für Erwachsene darstellt? Wagen Sie es laut auszusprechen, dass Trump vieles, aber nicht alles falsch gemacht hat?

Nun, dann liegen Sie womöglich hier und da falsch, aber sie bedienen sich offenbar ihres eigenen Verstandes, statt auf die Schwarmintelligenz opportunistischer Lemminge zu vertrauen. Womöglich denken Sie, wenn alle in eine Richtung laufen, muss ich da nicht auch noch hin. Wenn alle „A“ sagen, gibt es genug A-Sager. Wenn alle „steiniget ihn“ rufen, fehlt dem Tribunal ganz klar ein Verteidiger. Wenn Sie dieser Verteidiger sein wollen – und sei es auch nur gelegentlich – lesen Sie den Artikel von Alexander Grau.

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10 Kommentare

  1. Schon richtig, aber: man muss auch schauen, dass man nicht verbittert, das kommt mir bei Grau etwas zu kurz. Wer sich wegen einer Gesellschaft schlecht fühlt, die dieser Gefühle gar nicht wert ist, der fühlt auf eine Art paradox (so etwa wie jemand, der dauerhaft seinen Partner oder seinen Job hasst). Zumindest sollte man es immer hinterfragen, wenn man sein eigenes Gefühlsspektrum dahin verengt. Niemand sagt nämlich, dass man sich überhaupt in irgendeiner Weise zu so einem unerfreulichen Ding positionieren muss, wie es unsere Republik im Moment in der Tat darstellt. – Man lebt halt einfach hier, aber ob man überhaupt eine Haltung zeigt, darüber ist damit noch nichts gesagt. Es gibt einfach ein riesiges Spektrum von offenem Protest, zu Meinung hinter dem Berg halten, sich erfreulicheren Dingen zuwenden etc.pp. Man ist auch nicht einfach nur feige, wenn man mal keine Stellung bezieht. Wer kritisch denkt und sein Wahlrecht ausübt, der tut in der Demokratie erstmal schon mehr als andere. Wo darüber hinaus die Linie liegt zwischen Verantwortung für ein im Grunde imaginäres „Ganzes“ einerseits und dem Fokus auf das eine, unverfügbare eigene Leben andererseits, bestimmt jedermann selbst.

  2. Herr Letsch auf „besorgt.de“: Dagegensein ist ein Prinzip und keine verkommene linke Romantik.

  3. Danke für diese beiden exzellenten und entlarvenden Artikel. ENDLICH verstehe ich, warum sich so viele intelligente und gut ausgebildete Menschen weigern, ihren Verstand zu benutzen. Das macht die Tatsache zwar nicht besser, aber ich kann jetzt besser mit ihr umgehen.

  4. Vielen Dank für diese luzide Analyse. Man kann aber vielleicht noch tiefer greifen. Tribunalisierung & Religionisierung bedienen sich intellektueller Einordnungen und Zuschreibungen, wie sie für Menschen typisch sind, Schimpansen beispielsweise werden schwerlich eine critical race theory entwickelt haben, wenn sie andere Gruppen angreifen und deren Mitglieder umbringen. Nun dient bei vielen Leuten das Denken außerhalb alltäglicher Erfordernisse vorwiegend der Rationalisierung ihrer Interessen und Vorurteile, und das gilt ganz besonders für die Masse der sog. Intelligenz; die sog. einfachen Leute halten sich da eher zurück. Nicht ohne Grund finden wir die Anhänger moderner Erweckungs- und Herrschaftslehren vorwiegend unter der sog. Intelligenz, die Grünen sind ein charakteristisches Beispiel. Es erklärt auch, warum die Masse der sog. Intelligenz, im Gegensatz zu den einfachen Leuten, 1914 erlösungsmäßig jubelte oder sich, entgegen der Propaganda vom verbreiteten Widerstand, 1933 so bereitwillig der neuen Erweckungsbewegung des Planetenretters AH anschloss oder in großer Zahl noch 1944/45 an den Endsieg glaubte. Man verfügt über ein besonderes Verblendungspotential.

    Darunter liegt m.E. vor allem das Bestreben nach der (Wiederherstellung der) homogenen Gruppe, die nicht nur der Identifikation dient, sondern ihre Überlegenheit aus der Abgrenzung gegenüber anderen und deren Abwertung ableitet; auf möglichst einfache Weise Distinktionsgewinne zu erzielen, spielt in der sog. Intelligenz eine zentrale Rolle, es findet sich aler in allen Kulturen. Vor vielen Jahren las ich das Buch eines niederländischen Völkerkundlers, der auf Papua-Neuguinea gearbeitet hatte. Er schilderte, wie er bei jedem der Stämme gefragt wurde, wie es möglich sei, dass er von diesem und jenem anderen Stamm komme, denn das seien doch abgrundtief böse Leute, denen man nicht trauen könne. Wenn er ankündigte, zu einem anderen Stamm weiterzureisen, wurde er gewarnt, das seien usw. Das hat mir seinerzeit die Augen geöffnet. Vor 50 und mehr Jahren fand man dergleichen Räsonnement auch hierzulande regelhaft in Dörfern, indem schon den Leuten des Nachbardorfes abweichende, in der Regel unvorteilhafte Eigenschaften zugeschrieben wurden. Wir sehen diese Tribalisierung heute neu aufleben, nur halt stärker intellektuell eingekleidet. Daher die unaufhörliche Suche nach Feinden, Ungläubigen, auch nach indirekten Zeichen (Hexenmalen) usw., Abgrenzung ist die Essenz eines primitiv verstandenen sog. Zusammenhalts.

    Die Tribalisierung wird einerseits innerhalb der westlichen Kultur von der sog. Intelligenz (ich spreche gerne von „Imbezillizenz“), andererseits durch den massenweisen Import bereits trainierter Tribalisten & Clanisten massiv vorangetrieben. Es scheint mir vernünftig, zu erwarten, dass dieser Zangenangriff die westliche, säkulare, auf den Einzelnen fokussierte, auf inhaltliche, realitätsbezogene Argumente ausgerichtete Kultur erwürgen und dass dies am Ende verblüffend schnell gehen wird, da bereits so viel Substanz aufgebraucht ist. Immer wieder bin ich erstaunt, wie wenig Reflexion auf die Grundlagen der eigenen Kultur selbst in der Academia vorhanden ist.

    Die kognitiven Dissonanzen, die in der sog. Intelligenz verbreitet sind, kann man sehr schön an Folgendem illustrieren. Einerseits wird die Kontinuität des Menschen zum Tierreich betont („Tiere denken“), obgleich dieses Denken nur einfache Kategorisierungen betrifft (ich kenne keinen Schimpansen oder Zwergpinscher, der Mathematik oder Theoretische Physik oder Musikwissenschaft treibt). In jedem Fall spricht diese Kontinuität für evolutionär entwickelte, genetisch verankerte Programme, die sich als vorteilhaft zur Orientierung in der (sozialen) Umwelt erwiesen haben und durch Lernen aufgefüllt und adaptiert, aber nicht geschaffen werden. Das betrifft natürlich auch den Unterschied zwischen den Geschlechtern, für den es schließlich einige wenige Milliönchen Jahre Vorlauf gibt und der bei ausnahmslos allen Säugetieren in Dispositionen und Verhaltensprogrammen absolut klar zutage tritt. Beim Menschen jedoch ist der sog. Intelligenz zufolge ausgerechnet dieser für die evolutionäre Fitness wichtige Unterschied eliminiert, und geheimnisvolle Löschungen haben stattgefunden, analog zu den Vorstellungen von Kreationisten, für die ebenfalls der Mensch fundamental aus der Schöpfung herausgehoben ist.

    Wenn man Dispositionen leugnet, fällt man ihnen allerdings gerade zum Opfer, da man sich der Möglichkeit beraubt, damit rational umzugehen, und das ist der Grund, weshalb gerade bei diesen Leuten die Meutenmechanik so wunderbar zutage tritt, siehe Antifa, Femifa usw. Analog bringt man den Tribalismus nicht durch Postulate zum Verschwinden – er tritt dann umso stärker hervor, gerade in einer Gesellschaft ohne traditionelle Identifikationsangebote. Und genau das sehen wir, eingekleidet in Tribunalisierung & Religionisierung, denn ohne sog. geistige Ansprüche geht es nicht. In meinen Augen ein Geschehen, das inzwischen für den vergleichenden Primatologen viel interessanter ist als für den Kulturanthropologen. Wir bewegen uns in Richtung einer Atavismen-Aktivierung, welche die Phase der Aufklärung (habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen) liquidiert. Und darin äußert sich, dass die Masse der anführenden sog. Intelligenz von der selbstgeschaffenen Komplexität der Gesellschaft überfordert ist. Daher auch reden die Intelligenz-Füchse wie in der Fabel des Äsop so oft und gerne schlecht, was sie nicht erreichen, es ist halt bequemer, statt seine Grenzen anzuerkennen oder sich anzustrengen.

    • Ach, ich glaub die Homogenisierung der Gruppe ist egal. Es geht um die Hackordnung. Ich glaube, wie eine Gruppe geschnitten wird, ob entlang territorialer Grenzen, Glaubensbekenntnissen und Verwandschaftsgrade ist den Leuten egal. Sie nehmen, was en vogue ist. Wichtig ist, dass man einigermaßen weit oben in der jeweiligen Zuordnung nach unten schauen kann.

      Aber Ihn Ansatz entlang grundlegender Instinkte zu argumentieren, ist richtig. Ich stoße schon bei vielen auf eine Kommunikationsgrenze, wenn die nur vor dieser oder jener speziellen Denkschule warnen wollen, als ob Denkschulen sich historisch jemals exakt wiederholt hätten. Diese Leute vertun ihre Zeit, lösen ständig falschen Alarm aus und sind ignorant gegenüber den totalitären Entwicklungen ihrer eigenen Zeit, die fast beliebig aus fast jeder Denkschule erwachsen können.

      Ich wäre auch fast froh, sie hätten mit ihrer Rationalisierungserklärung recht. Aber ich sehe keine Rationalisierung. Ich sehe überhaupt nichts Rationales mehr. Ich weigere mich, mir die Critical Race Theory überhaupt anzuschauen. Douglas Murray und Andrew Doyle haben es gemacht und sagen, dass sie intellektuell schlicht sei. Ich sehe keine fehlerhafte Rationalität (Rationalisierung), sondern Analogisierung. Damit meine ich, dass Analysen und Folgeeinschätzungen im Diskurs nicht mehr vorkommen, sondern alles nur noch erinnert. Die Analogien und Assoziationen ziehen in der Regel eine Erinnerungskette zu Hitler, weil alles andere die Bildung überfordert. Das ist keine Ratio.

      Ein verheerendes Konfliktpotential hat die fehlende Hierarchielegitimität der Eliten, die (verbal) nicht zugeben, Eliten zu sein, es aber durch auffallend teure Klamotten und Tritte noch unten sehr wohl zum Ausdruck bringen. Als Katrin Göring-Eckardt mich als Abgehängter abgehängt hat, hab ich mich schon etwas am Kopf gekratzt. Ich hab nicht „Studienabbrecherin“ gerufen, weil auch kluge Köpfe ihre Studien abgebrochen haben und etwas wurden, aber ich weigere mich anzuerkennen, dass KGE mir moralisch, intellektuell oder in Sachen Arbeitsamkeit überlegen sein soll.

      Mit der fehlenden Legitimität ist auch die fehlende Moral verbunden. Viele stellen demokratische Werte in Frage, weil sie erleben, dass die Eliten sämtliche Prinzipien mit einem „Quod licet Iovi non licet bovi“ an die Wand fahren und die Einhaltung der selbigen immer nur selektiv zum eigenen Vorteil einfordern. Die demokratischen Werte haben ihren rationalen(!) Zweck, auch wenn sie zunehmend missachtet werden. Unsere Führungskaste missachtet nicht nur demokratische, sondern alle Werte, wie man an deren Umgang mit der Meritokratie sieht (von der Leyens Doktorarbeit, Baerbocks Buch/Lebenslauf, Frauenquoten…). Es ist also nicht die Schuld der demokratischen Werte. Diese Eliten zertrampeln alle Werte.

      Nicht nur werden die Hierarchien immer unlegitimierter, sondern parallel auch immer steiler. Mit klimabedingter Wachstumsdrosselung wird man Sozialaufsteiger in Schach zu halten wissen. Man kann sich nicht mehr aus dem Weg gehen und auch niemanden mehr als Konkurrent herausfordern, wenn nichts mehr Neues wächst. Wer nicht kuscht, ist raus. Wie friedlich die Zukunft mit unlegitimierten Hierarchien sein wird, sieht man auch bei den Affen. Aber das sind Folgeabschätzungen und gehören damit nicht zum intellektuellen Arsenal der derzeitigen Führung.

  5. Gibt es aus der Vergangenheit Beispiele, in denen die vielen JA-Sager auch mal Recht hatten und behielten?

  6. Sie bringen es sehr schön auf den Punkt. Es sind die Ideologien, ob Religion, Nationalismus, Kommunismus, Klimareligion. Mit ihnen muss man sich in der jeweiligen Zeit auseinandersetzen in der man lebt. Und ich bin auch der Meinung, dass viele ja Sager, die heute ja sagen, in anderer Zeit zu anderen herrschenden Themen auch laut ja gesagt hätten. Die Menschen sind früher nicht anders gewesen als wir heute. Sie sind durch andere Themen im Denken mehr oder weniger stark beeinflusst worden so wie wir heute auch. Auch ich persönlich muss mich mit gesellschaftlichen Themen beschäftigen, wo ich denke, eigentlich völlig unnütz oder warum wird solch ein Thema mir ohne Not aufgedrängt, dass ich mich dazu verhalten muss. Warum gehen wir nicht weiter in der Entwicklung des Bewährten.
    Eines sage ich mir immer zum Schluss solcher Gedanken Ideologien kommen und gehen. Leider kommt danach die nächste.

  7. Toller Artikel, beide wohlgemerkt.
    Und beim Lesen sind mir zwei Bemerkungen der letzten Zeit wieder eingefallen.
    Zum ersten, der Ostbeauftragte der Bundesregierung fühlte sich bemüßigt dauf hinzuweisen, dass die Menschen im Osten des Landes der Politik skeptischer gegenüber ständen. Und man möchte ausrufen, ja was denn sonst Herr Wanderwitz. Der Politik skeptisch gegenüber zu treten, die Aussagen und Handlungen der Regierung zu hinterfragen, ist doch wohl das Mindeste.
    Oder möchte Herr Wanderwitz ein Volk von Diederich Hesslings?
    Die zweite Bemerkung kommt von unserem „Staatsphilosophen“ Richard David Precht.

    „Gegen die Coronamaßnahmen, die Migrations- und Klimapolitik auf die Straße zu gehen, zeugt von einer unmündigen und infantilen Trotzhaltung.“

    Eine schwachsinnigere Bemerkung hat es in der letzten Zeit wohl kaum gegeben. Alle, die gegen die Corona Maßnahmen, die Klima- und Migrationspolitik protestieren sind kleine dumme Trotzköpfchen. Mit denen muss man auch nicht diskutieren, die sind eh zu dumm um die große here Agenda zu verstehen.
    Und in den großen Medien findet sich niemand der diesem Schwafler widerspricht.
    Warum auch, man surft ja auf selbiger Welle.

  8. Man kann vergleichen, die Nazizeit und heute, man muss aber nach dem Vergleich auch die Unterschiede sehen, deshalb vergleicht man ja.
    Einer der Unterschiede ist, dass wir als Gesellschaft und jeder in seiner Familie die Erfahrung der Nazi-Zeit hat, das hatten die Menschen 1933 nicht. Mussten sie damals nicht wissen was sie taten, was kommen musste, so können wir uns heute nicht mehr auf diese Unkenntnis berufen.

    • Und wir haben die Erfahrung des Kommunismus. Ca. ein Viertel der Deutschen Bevölkerung auch ganz persönlich.

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