War das Interview jetzt wirklich so schlimm? Hat Putin irgend etwas vorgebracht in seinen langen Girlanden aus historischen Lektionen und gespielter Verblüffung über den in toto pöhsen Westen, das dazu führte, dass die ukrainischen Flaggen in X-Profilen gegen russische ausgetauscht wurden? Wirklich zufrieden ist natürlich niemand mit dem Zweistundenstück, dass da auf der Kremlbühne gegeben wurde. Am wenigsten jene Maximalisten, für die das einzig legitime Gespräch mit Putin vor einem Richter in Den Haag stattzufinden hat. Und weil Carlson Putin weder die Zunge noch das Herz herausriss, hat er natürlich verschissen.

Putin „zu stellen“, das sei der wahre Journalismus! Ausgeübt von tapferen, gesinnungsfesten Drachentötern, die das Drachentöten in ihren warmen Redaktionsbüros oder vor dem Badezimmerspiegel üben. Putin ausreden lassen, ihn nicht zu unterbrechen, seine Propaganda in den Skat zu drücken und sich stattdessen auf die winzigen Details zu konzentrieren, die aufschlussreich sein können…sowas geht natürlich gar nicht! Aber schlechten Argumenten begegnet man immer noch am besten dadurch, dass man ihre Darlegung nicht stört. Nach dem Interview ist Zeit für die Analyse, nicht vorher.

Beginnen wir also bei Tucker Carlson selbst, der bereits in der Anmoderation die ihn verstörende Quintessenz des Interviews vorwegnahm. Putin ist der Meinung, dass die Ostukraine Russland gehört. Wenn nicht noch mehr. Basta! Das war’s! Это все! Das war das Ergebnis seiner halbstündigen Geschichtsvorlesung, die sich bis ins 8. Jahrhundert zurück ausdehnte. What else is new? Zu solcher Hochseilakrobatik greift man nicht, wenn man zur Untermauerung von Ansprüchen in der Zeitgeschichte hinreichend fündig wird. Oder, um mal ein Filmzitat zu bemühen: „Wir haben auch alle mal im Paradies gelebt. Das bedeutet nicht, dass wir da je wieder hin können!“ („The Tudors“, eine Episode aus der letzten Staffel, Charles Brandon erklärt einer Französin aus Boulogne, dass die Stadt mal den Engländern gehörte und deshalb erobert werden müsse.)

Und auch wenn ich es mir jetzt auch noch mit den letzten Putinfans verscherze, ein wenig erinnerten mich Putins Ausflüge in die Vergangenheit an Mahmut Abbas, inklusive stolz präsentierter „historischer Dokumente“ wie diesem Exemplar der „Palestine Post“ aus dem Jahr 1935, welche jedoch eine zionistische Tageszeitung aus Jerusalem war und keineswegs der Beweis für die vormalige Existenz eines palästinensischen Staates …aber ich schweife ab. Wozu also die bemüht und detailversessen vorgetragenen Erbansprüche, die aus noch dazu verdreht dargestellten Hilferufen längst verblichener Viertelfürsten resultieren sollen, wenn doch angeblich alles so offensichtlich ist? Auch führt die Abwägung, welcher Teil der Ukraine warum wohin gehört, zu nichts.

Point Zero

Putin bemerkte leider die Ironie nicht, als Tucker Carlson fragte, ob er schon mit dem Präsidenten Ungarns darüber gesprochen habe, auf welchen Teil der Ukraine Ungarn Anspruch habe. Nein, das habe er nicht, sage Putin mit vollem Ernst. Er spricht lieber von Russland in den Grenzen von 1654, da kann Tucker als jemand, dessen Heimatland erst 1776 gegründet wurde, schon mal albern werden. Aber ich will das hier gar nicht vertiefen, beim Grenzen ziehen den „Point Zero“ zu finden, den unverrückbaren Status Quo, den alle akzeptieren müssen, ist ein Ding der Unmöglichkeit und buchstäblich die Mutter aller Kriege. Mein Onkel könne sich natürlich freuen. Gälten die Grenzen von 1654, könnte er wieder nach Königsberg zurück. Der kam flach, ich weiß. Aber den konnte ich mir jetzt nicht verkneifen.

Berge aus Fakten auftürmen

Wirklich interessant an der Geschichtsstunde ist Putins Taktik, die er auch im weiteren Interview gekonnt benutze: Die wenigen wirklich schrägen bis verdrehenden Behauptungen unter einem Berg kleiner und doch irrelevanter Wahrheiten zu verschütten. Diese Form der Überwältigung mit Fakten, unter die ein wohl abgemessenes Quantum „freie Interpretation“ gemischt ist, funktioniert live ganz hervorragend und wird von allen Ideologen und „Hütern der einzigen Wahrheit“ – vom KGB-Offizier über den SED-Kader im Kampf gegen den Klassenfeind bis zum Klimakleber – medial eingesetzt.

Verantwortung verschieben

Das nächste Detail betrifft die Frage von Macht und Verantwortung. Immer wenn eine Frage ins kritische abbiegt oder direkt als Forderung auf seinem Schreibtisch landet, verweist Putin auf Strukturen außerhalb seines Zugriffs, die in Wirklichkeit nur Subalterne sind. Er habe dieses nicht zu entscheiden,… für jenes wäre der und der verantwortlich,… dazu müsse man den und den fragen…. Das ist Geheimdiensttaktik wie aus dem Lehrbuch. Macht ausüben ist nämlich besonders effektiv, wenn man mit formalen Ausflüchten, Strohmännern und Erklärungen, wie die Dinge wirklich lägen, glaubhaft machen kann, man hätte die Macht nicht. Diktaturen arbeiten so. Die Mafia arbeitet so. Natürlich gibt es viele Nuancen und auch sogenannte „Demokraten“ sind nicht frei davon.

Bereits 2018 im Interview mit Armin Wolf (zu welchem heute gern referenziert wird, um zu zeigen, wie „wirklicher Journalismus“ aussehe) wandte Putin diese Taktik an. Ein Beispiel: Auf Wolfs Frage damals, warum die Partei „Einiges Russland“ ausgerechnet zu EU-kritischen Parteien so enge Kontakte pflege, antwortete Putin, das sei eben Parteipolitik, er sei nun aber der Präsident und nicht Parteichef und deshalb müsse Wolf dazu schon Medwedew, den Parteichef fragen, der aber, wie schade, gerade nicht greifbar war.

Diese Taktik unterscheidet Putin übrigens von fast allen westlichen Politikern, die gern mit mehr Entscheidungskompetenz prahlen, als tatsächlich in ihren Maßanzügen steckt. Keiner von denen käme auf die Idee, zu sagen „da muss ich erst mal meinen Souverän fragen“. Ihre Lügen bestehen aus Anmaßung von Macht. Putins Lügen besteht darin, Ohnmacht vorzutäuschen, indem er einen Minister oder „Volkes Wille“ vorschiebt. Wie bipolar unsere Welt doch ist!

…und ein Riss in der Fassade

Das dritte Detail trat besonders deutlich zu Tage, als Tucker seinen etwas naiven Plan offenbarte, den in Russland seit einem Jahr in Untersuchungshaft sitzenden amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich freizubekommen. Er würde ihn gern gleich mitnehmen: „Give him to us and we bring him back in the united states“. Im Vorfeld war spekuliert worden, Carlson habe sicher nicht den Mut, den Fall aufs Tapet zu bringen und da sind nun wohl einige Entschuldigungen fällt, was natürlich nie geschehen wird. Die Argumente gingen im Interview etwas hin und her und Tucker war an dieser Stelle ein guter Anwalt der Humanität. Nichts anderes hätte auch funktionieren können. Kein Verweis auf einen Pressecodex, internationales Recht oder Zitate von „Reporter ohne Grenzen“ hätte Putin überrascht. Er hätte wie oben beschrieben einen Strohmann vorgeschoben, der (leider, leider) auf gründliche Untersuchung dieses gefährlichen Falls bestünde.

Aber Tucker hat hier einen Riss in die Fassade Putins gelächelt und offenbar ist es keinem aufgefallen. Auf Tuckers entwaffnendes „he’s not a spy, he’s a kid!“ antwortete Putin: „He received classified informatons and he did it covertly…By the end of the day it makes no sense to keep him in prison.“

Ja was denn nun? Gershkovich kann Staatsgeheimnisse abgreifen (und dafür die Gesetze des Landes zu spüren bekommen) und doch mache es keinen Sinn, dass er im Gefängnis sitzt? Oder stimmt der Vorwurf gegen Gershkovich nicht und deshalb macht die Haft keinen Sinn? Beide Aussagen Putins widersprechen sich völlig! Hier hat er kurz seine eingeübte Rolle verlassen, die des Regierungschefs, der nicht allmächtig sei, dem durch Geschichte, Gesetze und Regeln die Hände gebunden sind. Er und er allein entscheidet, was Staatsgeheimnisse sind, wer warum verhaftet wird und wer frei kommt. Sowas passiert ihm nicht im Staatsfernsehen. Dafür braucht es schon die Anstrengungen eines über weite Strecken recht harmlos daherkommenden Interviews mit Tucker Carlson.

Fazit

Der Erkenntnisgewinn war zwar gering, aber einige psychologisch interessante Beobachtungen entschädigen für die verlorene Lebenszeit. Und einen Punkt muss ich sogar Putin geben, der auf Holz klopfte, um darzustellen, aus welchem Material die Köpfe deutscher Politiker sind. Ach, wenn sie doch nur auch die Nasen von Pinocchio hättet!

Das Interview wird den Krieg weder verlängern noch verkürzen und ich bezweifle auch, dass Putins Beteuerung, er habe über die Ukraine hinaus keinerlei territoriale Interessen, bei seinen Nachbarn in Polen und im Baltikum großes Vertrauen auslöst. Ich für meinen Teil schließe auf sowas ohnehin keine Wetten ab.

Als nächstes will Carlson nun mit Selenskyi, dem Präsidenten der Ukraine reden. Tucker als Pendeldiplomat zwischen Kiew und Moskau wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee angesichts des aktiven Politikpersonals beiderseits des Atlantiks. Die Umgehung der politischen Kanäle durch Jared Kushner (weil die Diplomaten nicht mit Trump arbeiten wollten) hat letztlich zu den Abraham-Accords geführt. Vielleicht ist der Frieden zu wichtig, um ihn immer nur den Politikern zu überlassen. Versuch es, Tucker. Schlechter kann’s ja nicht werden.

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4 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Text. Ich erlaube mir, zu widersprechen: Die lange Ausflug in die Geschichte – geschenkt. Daß Putin daraus einen Anspruch auf die Ostukraine abgeleitet habe, ist mir nicht aufgefallen. Daß aber die aktuelle ukrainische Regierung 2014 einen Krieg gegen das eigene Staatsvolk in der Ostukraine begann, könnte dagegen sehr wohl etwas mit dieser Geschichte zu tun haben. Man sollte auch nicht vergessen, daß es bereits eine menschliche Tragödie für diesen Teil der russischen Bevölkerung, der für die Verbrechen der Bolschewiken in der Ukraine nicht verantwortlich war, gewesen ist, nach dem Zerfall der Sowjetunion über Nacht unter fremde Herrschaft zu geraten und in vielen Belangen entrechtet zu werden.

    Grundsätzlich kann man es sich natürlich einfach machen und auf die Theorie abfahren, Putin habe den Krieg begonnen, um die Grenzen der Sowjetunion wieder herzustellen. Dann müßte man ihn allerdings für verrückt, dumm bzw. hochgradig debil halten und diesen Eindruck machte er während des Interviews gerade nicht. Im Gegenteil: vielmehr scheint er so manchem Politiker im Westen intellektuell haushoch überlegen zu sein.

    Und daß er knallhart russische Interessen vertritt, kann nur jene überraschen, die dies von der eigenen Regierung seit Jahrzehnten nicht mehr gewohnt sind. Oder ist Ihnen auch nur ein einziger Politiker in entsprechender Machtposition bekannt, der deutsche Interessen vertreten würde?

    Irgendein berühmter Militärstratege hat einmal gesagt, entscheidend was die Schuldfrage angehe sei nicht, wer den Krieg beginnt, sondern was im Vorfeld eines Krieges passiert. Und wer sich noch a die Kubakrise erinnert, hätte wissen können, daß die Ereignisse, die mit der “Osterweiterung der NATO” begannen, irgendwann in einen Krieg mit Rußland münden würden. Und dieser wurde der USA-Doktrin “destabilisiere und herrsche” entsprechend mindestens billigend in Kauf genommen. Wohl niemand wird Putins Angriff auf die Ukraine gutheißen können. Dennoch hat dieser Krieg viele Väter, die selbst jetzt noch davon profitieren. Und wer den Krieg beenden will, muß genau an dieser Stelle ansetzen, ohne ideologische Schranken.

  2. Verehrter Herr Letsch,
    ein kenntnisreicher und kluger Kommentar, den deshalb auch Andersmeinende gerne lesen (dürften).

    • Danke für den gut gemeinten Wunsch, aber die ersten wüsten Beschimpfungen sind schon eingegangen. Man kann es eben nie allen recht machen und deshalb versuche ich erst gar nicht zu schreiben, was andere von mir erwarten. 😉

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