„Einen größenwahnsinnigen Ritt durch 2000 Jahre deutsche Geschichte“ nannte der Spiegel das neue Stück von Rammstein. Von gezielter Provokation ist all überall zu lesen und von Grenzüberschreitung. Die bildgewaltige Inszenierung in typisch rammsteinschem Moll erweist sich dann aber doch als so komplex, dass die meisten Kommentatoren ihr anfängliches Urteil relativierten, weil es nur auf einem geschickt geschnittenen Trailer basierte. Dennoch stoßen sich viele immer noch an Details, während sie andere Details glatt übersehen haben und der meiner Meinung nach mitlaufende Subtext gänzlich missverstanden wird. Die Fehlinterpretationen erfolgen schon früh, denn das eingeblendete „16 a.d.“ weist gerade nicht auf die Varusschlacht, sondern auf die spätere Expedition des Germanicus, der das Schlachtfeld voller unbestatteter Gefallener vorfand. Dort begegnen wir auch der „Germania“ im Video zum ersten Mal, die sich als „schwarzer Faden“ durch die Bilderflut zieht. Der nun beginnende verzweifelte Ritt durch Tod und Zerstörung weist stets auf die Dualität aus Niedertracht und Größe, die in der historischen Betrachtung so typisch ist für dieses Deutschland.

„Überheblich, überlegen,
übernehmen, übergeben,
überraschen, überfallen,
Deutschland, Deutschland über allen.“

Dass die Rolle der Germania von der schwarzen Ruby Commey gespielt wird, treibt den Kommentatoren offenbar Schweiß auf die Stirn. Meiner Meinung nach sind alle Erklärungsversuche dieser Besetzung schlicht falsch. Wenn etwa der Spiegel-Autor schreibt „Eine Schwarze, an der sich die Kolonialherren kannibalisch weiden“ hat er offenbar die Szene nicht verstanden. Commey ist nämlich in jeder Szene von Anfang bis zum Ende immer nur Germania, nichts anderes – und genau hier setzen meine Erklärungsversuche an.

Wir sind Ihr

Rückblende. Sommer 2017. Der Spiegel manipuliert seine eigene Bestseller-Liste, um ein Buch – nein, ein Büchlein – daraus verschwinden zu lassen: Rolf Peter Sieferles „Finis Germania“. Ich hatte es gelesen und rezensiert und mich insbesondere mit dem Vorwurf an den Autor auseinandergesetzt, es sei antisemitisch. Doch mit dem Buch verhält es sich wie mit dem Rammstein-Video. Es genügt nicht, sich auf eine Szene zu kaprizieren, man braucht den Kontext.

„Übermächtig, überflüssig,
Übermenschen, überdrüssig.“

Was ich vor fast drei Jahren als Fazit über das Buch schrieb, setze ich hier als Eigenzitat im Wortlaut ein. Führen sie sich beim Lesen die KZ-Szenen aus dem Video vor Augen, dann wissen Sie, wo die Parallelen zu finden sind. „Es ist [] voll von Gedankenspielen und befasst sich so intensiv mit tabuisierten Modellen, dass man diesen Eindruck [den Eindruck des Antisemitismus] gewinnen kann, wenn man die Gedankengebäude des Autors zu früh empört verlässt. Tut man das nicht, gelangt man in genau die Spiegelwelt, in der Sieferle [oder eben Rammstein] den Leser [oder Betrachter] haben will, außerhalb des Systems, außerhalb von Verantwortlichkeiten und historischen Betrachtungen. Es ist kalt dort und man mag sich nicht lange in diesen Sphären aufhalten, schon weil die Aussicht auf Deutschland und die Welt von dort deprimierender nicht sein könnte.“

„Bist Fluch und Segen,
meine Liebe kann ich Dir nicht geben.“

Auch „Die Zeit“ sieht in der „schwarzen Germania“ nichts als Anspielungen auf die Kolonialzeit und bleibt in Oberflächlichkeiten stecken. Offenbar ist es vielen hierzulande immer noch unmöglich, loszulassen und Menschen jenseits des Täter-Opfer-Narrativs zu betrachten. Doch Ruby Commey wurde im wiedervereinigten Berlin geboren und ist somit so deutsch wie nur irgendwas. Wie kommt es dann, dass sie als Germania in so vielen Szenen und Verkleidungen so unglaublich entrückt und deplatziert wirkt? Nimmt man ihr die Stasi-Strippenzieherin ab, die SS-Schranze, den preußischen Offizier? Was stört uns daran? Ist all dies nicht auch ihre Geschichte? Ihre Varusschlacht, ihr preußischer Drill, ihre Stasimethoden, ihr Holocaust? Bedeutet dieses „Deutschsein“ nicht genau das und zwar ausnahmslos für alle, die sich als „deutsch“ definieren oder die wir durch Integration zu Deutschen machen wollen?

„Mein Atmen kalt,
so jung, und doch so alt.“

Den Briten mit ihrem zähen Brexit schreibt die Kanzlerin gern ins Stammbuch, es gebe kein „Rosinen picken“, ob es sich mit deutscher Geschichte, deutscher Schuld und deutscher Verantwortung auch so verhält? Was wäre Integration wert, wenn sie vor dieser Konsequenz Halt machte? Macht sie dort vielleicht gerade Halt? Ist den uns so zahlreich Zugelaufenen klar oder machen wir ihnen klar, was es bedeutet, „deutsch“ zu werden? Eher nicht. Die unangenehmen Teile unserer Identität behalten wir „uns“ vor und beneiden heimlich jene, die wir davon absolviert haben. So wären wir auch gern: frei von Schuld, frei von Verantwortung und prügeln deshalb bei jeder Gelegenheit ein auf die Köterseele unserer Identität, legen uns neue, ergänzende Identitäten zu, retten die Welt, das Klima, kastrieren freiwillig unsere Sprache und rufen bei jedem Spiegel, an dem wir flüchtig Blicke hineinwerfend vorübergehen „Europa ist die Antwort“. Oder, um Sieferle zu zitieren: „Man braucht nur post festum ein guter Antifaschist zu sein, und schon ist die eine Hälfte des 20. Jahrhunderts moralisch gebannt“.

Doch dürfen wir mit der Selbstverleugnung nie zu weit gehen, Deutschland darf sich nicht gänzlich abschaffen – und vielleicht ist es genau diese Konsequenz, die Sarrazins Buch schon im Titel trug, die es so verhasst machte. Es muss ja noch jemand da sein, der die Verantwortung der Geschichte trägt. Wir können deshalb nicht alle selige Europäer werden, es muss noch Deutsche geben. „Echte“, nichtfarbige, nichtdiverse, die das Päckchen aus Schuld und Verantwortung tragen und die Exerzitien und Selbstgeißelungen durchführt.

„Die Zeit“ sieht schon dräuend das Unheil in den Stadien der Rammstein-Tournee heraufziehen. „Schwierig könnte es etwa werden, wenn während der ausverkauften Konzerte der diesjährigen Stadiontour Zehntausende die Sequenz «Deutschland, Deutschland über allen» mitgrölen sollten.“ Da ist natürlich was dran, auch wenn die nationalistische dumpf deutsche Interpretation solcher Gesänge zu kurz gegriffen wäre. Denn die Peitsche knallt immer auf unsere eigenen Rücken, die adjektivische Verstärkung „über“ in den Alliterationen des Rammsteintextes ist nämlich in Worte gegossene Verachtung für die Neigung der Deutschen zu Extremen aller Art und ist damit der Versuch zu erklären, wie Deutschlands Geschichte so oft und so eng mit geradezu epischen Katastrophen verknüpft ist, die sich stets aus moralischen Exaltationen ergeben haben. Die aktuelle deutsche Hybris und der Spagat zwischen Selbstverleugnung und Weltrettung laden deshalb geradezu ein, den Versen Rammsteins noch einige weitere hinzuzufügen.

Überfrachtet, überborden,
übereifrig, überfordert.

Übersinnlich, übertölpelt,
überschlau und überwölbend.

Überängstlich, überhastet,
überschätzt und überlastet.

Fazit: Musikalisch entlang eingetretener Rammstein-Pfade. Optisch und textlich ein orgiastischer Reigen am Abgrund. Strauchelnd, fallend und alles mit sich reißend, was mit dem Wort „deutsch“ in Berührung kommt. Selbstkritischer geht’s kaum. Das internationale Urteil „epic“ trifft den Kern, denn der griechische Gattungsbegriff für erzählende, weitläufige Dichtung „Epos“ steckt in diesem Video, dessen Text einiges beschreibt, aber noch deutlich mehr transportiert. Man muss aber schon genauer hinschauen um die Faust der Anklage in jeder Szene zu erblicken. Tut man dies, ist die Erkenntnis fast so schmerzvoll wie die Lektüre jenes kleinen Büchleins, von dem schon die Rede war.

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9 Kommentare

  1. Der Artikel von Roger Letsch ist genial. Er bestätigt alle meine intuitiv und empirisch gewonnenen „Erkenntnisse“ über die (immer wieder) segensreichen Auswirkungen vollkommen inkompetenter linker Politspinnereien …

    Großartig!

  2. Erbsünde, ewige Schuld, Nazi, Folterknecht, Opfer und vor allem Deutsch. Rammstein weiß wie man kurz vor der Karriere-Götterdämmerung noch reichlich Kohle scheffelt und serviert allen interpretationsgeilen Nußknackern geistig schwer verdauliche, scheinbar intellektuell angegarte Kost eingetütet in brutal dröhnender Endzeitstimmung.

    Das erinnert an Hape Kerkeling’s legendäre Nummer als Hirnschmalzlieferant für ein solches Klientel:

    Der Wolf
    Das Lamm
    Auf der grünen Wiese
    Hurz!

    Der Nazi
    Das KZ
    Rammstein
    Hurz!

  3. Die „Daumen runter“ bei dir, lieber JFK, zeigen, dass es viele (deutsche) Schuldträger gibt. Das kann pathologisch bedingt sein oder auch um andere Dinge zu rechtfertigen oder zu kompensieren und/oder extrem linke Positionen zu rechtfertigen.

    Was den SPIEGEL betrifft, der ist so typisch deutsch wie man nur deutsch sein kann. Hierzu Beispiele: Er neigt zu extremen Positionen, z. B. er unterstützt die extreme links-grüne Energiewende oder er unterstützt den Islam.

  4. … die Ver­ant­wor­tung trage ich gerne mit … – die Schuld oder eine Schuld jedoch können Sie gern alleine tragen.

    Das ist von Erich Kästner (Mai ’45, Tagebuch):
    „Die Schuld würde ich ablehnen. Aber die Schulden würde ich anerkennen.“

    (Hat aber alles nix mit der oben genannten Popmusikkapelle zu tun)

  5. Ein krankes Lied von einer kranken Band. Es gehört schon sehr viel Schizophrenie dazu, sich sowas auszudenken.
    Was mich betrifft, so lasse ich mich als Deutscher weder zu den Schandtaten des dritten Reiches, noch zu solch abstruser Kunst herab reduzieren!

  6. Es ist ja keine Schuld gemeint, sondern die Konsequenz (zum Beispiel die Verantwortung), die sich aus der Identität ergibt. Die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur und Geschichte erschafft Identität; dabei spielt die Hautfarbe und Herkunft keine Rolle. Genauso wie im Spielfilm „Maria Steward“ heute selbstverständlich ein schwarzer Darsteller zum englischen Kronrat des 16. Jahrhunderts gehört, trägt jeder Mensch, der sich als deutsch erkennt, die Germania gleichfalls in sich. Falls ihm das aberkannt wird, so wäre dies dann tatsächlich rassistisch, denn dem farbigen Menschen würde für immer die deutsche Identität verwehrt bleiben und er wäre per Hautfarbe, also biologisch, in eine ewig währende Opferrolle gezwängt. Von daher trägt das Video schon geniale Züge, will ich meinen, entlarvt es doch den Rassismus von links und rechts gleichermaßen.

    • Gerade bemerke ich im Nachhinein, dass ich ganz zu Beginn meines Kommentars einen Satz hinzufügen hätte sollen. Nämlich: „Ja, Roger, ich sehe es genauso wie du …“ Der Kommentar soll Zustimmung bedeuten, nicht Kritik. Man könnte ihn missverstehen.

      Und die Stuarts sind natürlich gemeint, nicht Marie, die Stewardess 😉

  7. die Verantwortung trage ich gerne mit als ein jetzt mit50iger – die Schuld oder eine Schuld jedoch können Sie gern alleine tragen, denn ich habe KEINE SCHULD an den 30igern zu tragen – die Schuld des komplett depperten Deutschlands dieser Tage zu tragen ist schwer genug.

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