Der Kalenderspruch „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, gesprochen mit der brüchiger Greisenstimme Erichs Honeckers am letzten Geburtstag der DDR hätte auch gut die Gründungsurkunde der EU zieren können, die in Form des Vertrags von Maastricht 1992 unterzeichnet wurde. Damals wurde langfristig und fast automatisiert die Abschaffung der europäischen Nationalstaaten beschlossen. Ziel war der große europäische Einheitsstaat mit gleichgeschalteter Währung, Wirtschaftspolitik, Justiz, Polizei, Außen- und Sicherheitspolitik. Der Nationalstaat als solcher habe ausgedient und sei ein Relikt des 19. Jahrhunderts, hörte man die Protagonisten der Einheitszukunft sagen.
Den skeptischen EU-Bürgern, die befürchteten, statt der eigenen Bürokratie nun eine in Brüssel aufgezwungen zu bekommen, welche noch weniger zur Verantwortung zu ziehen sein werde, begegnete man mit dem Argument, man baue nun am „Europa der Regionen“. Man könne also zugleich Europäer sein und gleichzeitig bayerischer, venezianischer, katalanischer, schottischer oder flämischer werden. Nur hatte man in Brüssel kaum eine Vorstellung davon, wie das funktionieren sollte. Blieben doch die Verhandlungspartner auf dem Weg in die immer engere europäische Umarmung stets die Regierungen in Rom statt Venedig, Madrid statt Barcelona oder London statt Edinburgh. In die Provinzen wagte sich Brüssel immer nur dann vor, wenn es galt, renitente EU-Mitglieder auf Linie zu bringen, wie zuletzt der ungenierte Flirt Brüssels mit der schottischen Regionalregierung zeigte, der zu Recht als Nachtreten in Richtung London verstanden wurde. Man signalisierte zwar Schottland Verhandlungsbereitschaft im Fall des Brexit, in Richtung der Katalanen war man in Brüssel hingegen nicht so konziliant. Denn da sowohl „Rest-Spanien“ als auch Katalonien in der EU bleiben möchten, ist Brüssel der Status Quo allemal lieber, denn die spanische Regierung ist als Netto-Empfänger voll auf EU-Linie und aufgrund bestehender Abhängigkeiten geradezu handzahm. Ein Zustand, der im Fall der Katalanen, die ohne Zweifel in den exklusiven kleinen Club der Netto-Zahler aufrücken würde, nicht als gesichert gelten kann.
Das Zustandekommen des Referendums in Katalonien zeigt einmal mehr die Ohnmacht der EU, zur Lösung von Problemen in den Häusern ihrer Mitglieder beizutragen. Vielmehr glaubt man bis heute, die supranationalen Institutionen würden bereits qua Existenz für die Beseitigung nationaler Eigensinnigkeiten sorgen, die man in Brüssel schlicht für Egoismus hält. Der mangelhafte Föderalismus in Spanien und auch in Italien sorgt indes dafür, dass die regulatorischen Eingriffe Brüssels den Separatisten im Vergleich mit ihren Zentralregierungen wie das kleinere Übel erscheinen. Brüssel ist kalt und weit weg, während die Hand Madrids sich in den Taschen der Katalanen sehr nahe und warm anfühlt. Zumindest den Eindruck von Brüssel halte ich jedoch für trügerisch.
Katalonien bereitet nun also seine Unabhängigkeitserklärung vor. Ein Vorgang, den Madrid aufgrund des gewaltsamen Eingreifens in das zugegebenermaßen illegale Referendum kaum noch unter Kontrolle bringen kann. Die Rede des spanischen Königs war leider auch nicht gerade geeignet, die Wogen zu glätten. Sie zeigte vielmehr, auf welchem Paniklevel man sich in Madrid mittlerweile befindet.
Ich möchte nicht beurteilen, ob die Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen, der Norditaliener, Schotten, Flamen und anderer berechtigt, klug und sinnvoll sind. Ich kritisiere aber die unklare Rolle der EU bei diesen Entwicklungen. Denn:
- Die EU suggeriert, sie sei die moderne Alternative zum Nationalstaat, die wenig fordere aber viel zu bieten habe – das Gegenteil ist der Fall.
- Die EU kritisiert zwar international jede separatistische oder nationalistische Bestrebung, weil sie das Konfliktpotential erkennt, nimmt aber je nach Bedarf gegensätzliche Positionen bei Konflikten im eigenen Haus ein.
- Man versprach den EU-Bürgern ein „Europa der Regionen“, schwächte dadurch jedoch fahrlässig die Bindekräfte vieler Nationalstaaten und schuf reichlich Konfliktpotenzial für die Zukunft.
- Die EU verfügt über keinerlei sinnvolle Regularien für den Fall, dass ein Mitgliedsstaat aufgrund innerer Konflikte auseinander bricht.
- Der kleinliche, nachtragende und herablassende Umgang Brüssels mit Großbritannien nach dem Brexit zeigte die Grenzen von Toleranz und Diplomatie in der EU, in deren Bürokratie die Welt ganz in imperialer Tradition vergangener Epochen in Freund und Feind eingeteilt wird. Man schmeichelt den Willigen und droht den Unwilligen. Weil Spaniens Regierung zu den Willigen gerechnet wird, darf sie ohne Tadel das eigenen Volk niederknüppeln. Man frage sich, ob Brüssel im Fall der gewaltsamen Auflösung einer Anti-Brexit-Demo in London auch so nachsichtig reagiert hätte.
- Eine verbindende europäische Identität, die die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, Sprache, Nationalität oder Religion ersetzen, positiv überlagern und europaweit glattstreichen könnte, gibt es einfach nicht. Und es wird sie auch nie geben, weil diese Idee aus ebenso fehlgeleiteten Theoretiker-Köpfen kommt, wie einst die Vorstellung der Kommunisten vom „neuen Menschen“.
Es war ein illegales Referendum. Ja. Aber hätte es denn ein legales geben können? Diese Frage beschäftigt mich schon länger. War die spanische Regierung bereit für irgendeine Form der Unabhängigkeit? Ist in der Verfassung nicht vorgesehen, so hieß es dauernd…
Immerhin haben die Katalanen seit tausend Jahren eine eigene Schriftsprache, die näher am Französischen steht als am Spanischen; der Abstand ist größer als zwischen Spanisch und Portugiesisch. Eine ethnische und sprachliche Identität ist also gegeben; völlig anders als bei Sachsen oder Bayern.
Immerhin ist die Wirtschaftskraft dieser Region weit höher als im Rest des korrupten Landes. Ökonomisch ist es also so, als wollten Bayern oder Baden-Württemberg austreten, um nicht weiter Bremer Sozialisten oder notorisch unfähige Berliner finanzieren zu müssen.
Die Stimmen der EU schlagen sich wie so oft auf die Seite der Zentralmacht. Doch was Brok oder Oettinger zu diesem Thema von sich geben, interessiert auf der Welt niemanden; diese sehen nur ihre eigenen Pfründen dahinschwimmen. Die Zeiten der Bevormundung – wir wissen, was gut für euch ist – sollten vorbei sein.
Die einzigen, die über Katalonien entscheiden dürfen, sind die dortigen Wähler. Denn die Betroffenen sind es, die beim Bleiben oder Gehen mit den Folgen leben müssen. Nicht anders als die Briten im Fall beim Exempel des Brexit. Und wenn sie das Gefühl haben, dass sie ihr Land zurück wollen, dann ist das eben so.
Wie unser Grundgesetz kennt auch die spanische Verfassung den Bundeszwang. Wie würden wir reagieren, wenn Bayern aus dem Bund austreten wollte? Würden wir die Bundeswehr schicken? Oder beweist nicht schon der Griff zu militärischen Maßnahmen, dass die Föderation längst gescheitert ist? Wer eine Abstimmung dieser Größenordnung verbietet und niederknüppelt, hat m.E. bereits vor dem ersten Schuss verloren! Was würde es nutzen, den Partner in einer zerrütteten Ehe mit dem Hinweis auf den Ehevertrag mit Gewalt im Haus einzusperren?
Merkwürdigerweise vertritt mal wieder ein Großteil der deutschen Presse – wie auch im Falle des Brexit – völlig unkritisch die Sichtweise des Zentralismus. EU, größtes Friedensprojekt, Rhabarber Rhabarber. Das niederträchtige Nachtreten, mit den wüstesten Drohungen für die Zeit nach der Scheidung, beweist, dass der Kampf für Madrid und für Brüssel bereits verloren ist. Es werden weitere Kandidaten aus den Völkergefängnissen austreten, allen voran die Visegrád-Staaten.
Auffällig ist in der Tat die Zurückhaltung der EU und der deutschen Lügenpresse, die doch sonst den geringsten Anlaß nutzen, um Unabhängigkeitsbestrebungen als nationalistischen Terror hochzuhetzen.
Eine Antwort habe ich gestern in zwei Artikeln gefunden: „Das katalanische Kalifat“ von Thomas Eppinger und „Katalonien auf dem Weg ins Kalifat“ von Gudrun Eussner.
Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen, welche im Vergleich zu dem baskischen Kampf um Selbstbestimmung bisher eher im Hintergrund standen, kann man nicht ohne die gezielte Masseneinwanderung der letzten Jahre, von katalanischen Nationalisten betrieben, betrachten.
Zwei empfehlenswerte Analysen zu diesem Thema, frei von Verschwörungstheorien:
http://www.achgut.com/artikel/das_katalanische_kalifat
http://eussner.blogspot.de/2017/08/katalonien-auf-dem-weg-ins-kalifat.html
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