Selektive Wahrnehmung und Appeasement in Europa

Noch vor wenigen Wochen wurden die Friedensbewegten hierzulande nicht müde zu fordern, Israel müsse mit der Hamas verhandeln. Und das waren noch die moderatesten Stimmen! Andere verglichen Israels Armee schon mal mit jener der Nazis und glaubten an einen neuen Völkermord. Die Hamas sei schließlich die gewählte Regierung im Gazastreifen, sagte man. Verhandlungen seien unumgänglich. Nun macht eine Schwalbe noch keinen Sommer und eine Wahl noch keine Demokratie – sowas lernt man auf jeder Diktatorenschule. Außerdem steht und stand die Hamas auf der Terrorliste des EU Ministerrats und bei aller berechtigten Häme und Misstrauen gegen die Institutionen der EU… auf diese Liste kommt man nicht, weil man krumme Gurken verkauft oder zu schnell durch Brüssel gefahren ist.

Es ist plötzlich ruhig geworden um den Konflikt im Nahen Osten. Man könnte glauben, die Europäer haben kein Interesse mehr an der Befreiungsbewegung der Palästinenser – woran kann das liegen? Sind die Probleme gelöst, ist endlich Frieden ausgebrochen im heiligen Land? Die islamistische Hamas ist immer noch an der Macht in Gaza, Israel existiert auch immer noch. Ich grabe mal etwas tiefer und versuche, unsere selektive Wahrnehmung etwas besser einzuordnen und zu verstehen.

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten beobachten wir verschiedene Arten des islamistischen Kampfes, man könnte sie grob drei Ausprägungen zuordnen:

Typ 1: „Revolutionärer“ Islamismus

Die Akteure präsentieren sich als Underdog, entführen Flugzeuge, nehmen Geiseln, vollführen Attentate (mit oder ohne sich selbst dabei zu töten) oder versuchen mal eben, Regierungen von Gastländern hinweg zu putschen. Das waren die Siebziger und Achtziger Jahre. München, Stockholm, Mogadischu, Putschversuch in Jordanien, … Omnipräsent damals z. B. die PLO unter dem umtriebigen Arafat. Ihren fulminanten Höhepunkt erreichte diese Form des Islamismus in Al Quaida und deren Anschlägen in New York, Washington, Madrid, London oder Djerba. Problematisch dabei ist, dass dieser Weg nur solange profitabel ist, solange es Regierungen gibt, die sich erpressen lassen oder Schutzgelder zu zahlen bereit sind, damit sich diese „Freiheitskämpfer“ nicht zu gern in ihren eigenen Ländern aufhalten. Der Islamismus darf dann auch gern sozialromantische oder kommunistische Züge haben. Solange Geld fließt, kann Blut fließen.

Typ 2: „Medialer“ Islamismus

Auf lange Sicht ist das Erpressen von Schutzgeld nicht einträglich genug. Sobald eine islamistische Organisation die Kontrolle über ein Stück Land erlangt hat, werden sonst womöglich Vorwürfe laut. Man wird plötzlich mit Verantwortung konfrontiert, muss Strukturen für Verwaltung, Bildung, Infrastruktur usw. aufbauen. Tut man das nicht, muss man unangenehme Fragen beantworten. Also: Nutze die Medien! Man hat erkannt, dass Mitleid der beste Öffner für Herzen und Brieftaschen ist. Noch besser ist ein schlechtes Gewissen – und darauf haben die Deutschen das Urheberrecht! Anfangs war man noch unerfahren und leistete sich peinliche Fehler: zum Beispiel wie bei der Belagerung von Ramallah (oder einer anderen Stadt, ich weiß es nicht mehr so genau) vor einigen Jahren der Weltöffentlichkeit die Brutalität der Israelis demonstriert werden sollte, welche angeblich die Stromversorgung von Brutkästen in einer Geburtsklinik unterbrochen hätten, und über dem fotografierten Brutkasten noch munter der EKG-Monitor flimmerte. Aber immerhin waren manche Fotojournalisten so tränenvernebelt, dass sie diesen Teil der Bilder wegschnitten. Als die Tränen wieder trocken waren, bekam man auch die originalen Bilder zu sehen.

So was passiert heute nur noch selten. Man ist in Sachen Pressebetreuung und Nachrichtenerzeugung mittlerweile so professionell, dass man die Journalisten sogar mit in die Tunnel nimmt und gut betreut. Was diese dann zu sehen bekommen, hat man sich wahrscheinlich in Nordkorea abgeguckt. Die Hamas spielt sehr geschickt auf der Klaviatur aller Medienkanäle. Sie hat verstanden dass es nicht auf Zusammenhänge ankommt sondern darauf, möglichst viel Empathie dort zu erzeugen, wo Geld einzusammeln ist und die öffentliche Meinung Politiker zu beeinflussen vermag. Sie hat erkannt, dass diese freie, öffentliche Meinung nicht nur die Stärke, sondern auch zugleich die Schwäche jeder westlichen Demokratie ist. Schwäche in dem Sinn, dass dort gewonnene Unterstützer nicht nur durch Demonstrationen, Zeitungsanzeigen und –artikel und Interviews, sondern auch für Geldspenden und politische Aktivitäten eingesetzt werden können. Ein gelungenes Beispiel war die „Ship-to-Gaza“ Aktion aus dem Jahr 2010, bei der von Anfang an allen Beteiligten klar sein musste, dass die israelische Armee sie unterbinden würde. Ziel war hier nicht die Lieferung von Hilfsgütern, sondern die Produktion von Bildern und Nachrichten. Selbst deutsche und israelische Politiker entblödeten sich nicht, sich vor den Propagandakarren der Hamas spannen zu lassen. Nicht einmal die Tatsache, dass einige der Passagiere der Mavi Marmara schon vor der Reise erklärt hatten, sie wollen als Märtyrer sterben (was ihnen ja auch gelang), hielt andere von einer Teilnahme ab. Wichtig bei derlei Aktionen und Medienproduktionen ist es im Zusammenhang mit Israel immer, möglichst auch einen Israeli mit „an Bord“ zu haben. Da Israel ein demokratischer Staat mit verfassungsmäßig garantierter Meinungsfreiheit ist, fällt es (wie hierzulande auch) nicht schwer, für jede Meinung auch einen „Kronzeugen“ zu finden. Ebenso leicht ist es übrigens, in Israel arabisch-moslemische Bürger zu finden, die gern in eben diesem Land leben und dies auch friedlich und selbstbestimmt tun.

Ihre „andere“ Seite präsentiert die Hamas längst nicht so offenherzig. Wenn mal wieder palästinensische „Kollaborateure“ exekutiert werden, ist dies unseren Medien kaum mehr als eine dürre Meldung wert. Es werden auch keine Bilder mitgeliefert. Niemand stellt der Hamas etwa die Frage, worin die Verbrechen ihrer Landsleute bestanden oder insistiert auf eine Antwort. Erst recht keiner der eigenen Landsleute wagt es, solche Fragen zu stellen. In Gaza weiß jeder, wie ungesund solche Fragen sein können. Auch hier gilt: Solange Geld fließt, kann Blut fließen.

Typ 3: „Anarchischer“ Islamismus

Während die Akteure des Typs 2 immer darauf bedacht sind möglichst nur die Bilder zu produzieren die geeignet sind, Unterstützer auf den Plan zu rufen, geht es den Anarchisten (Boko Haram, IS) darum, möglichst großes Entsetzen und Furcht zu verbreiten. Zur Verbreitung dieses Schreckens werden naturgemäß nur noch die Medien eingesetzt, auf die man leicht selbst Zugriff hat – die sozialen Netzwerke. Nicht dass es keine Journalisten gäbe, die bereitwillig mit Mikrofon und Kamera zur Stelle wäre – nur ist hier gesunderweise der Selbsterhaltungstrieb stärker als die Neugier. Bekannte, entsetzliche Beispiele belegen das. Ähnlich wie Krebs den eigenen Wirtskörper rücksichtslos zerstört, ist es auch diesen Anarchisten völlig egal, wie groß die angerichteten Zerstörungen sind. Solange es am Horizont ein weiteres Dorf zu plündern, weitere „Abweichler“ umzubringen und Frauen zu vergewaltigen gibt, muss man sich keine Sorgen machen. Interessant dabei ist, dass es dem einzelnen Beteiligen moralisch keine Mühe bereitet, dies zu tun – selbst dann, wenn er in Europa eine eher humanistisch geprägte Gesellschaft aufgewachsen ist und sich nun im Nordirak herumtreibt. Das Gift ist manchmal stärker als die Abwehrkräfte.

Fazit

Alle drei Ausprägungen des Islamismus habe ich in Anführungszeichen gesetzt weil ich der Meinung bin, dass es sich um Gesichter ein und derselben Ideologie handelt. Die Grenzen sind fließend (wie man zum Beispiel bei den afghanischen Taliban erkennen kann) und je nach Situation geht eine islamistische Organisation mal den einen, dann den anderen Weg. Wenn die IS, deren Vernichtung heute selbst linke Parteien für notwendig halten, morgen damit begönne, medienwirksam Geiseln freizulassen, die Friedlichkeit des Islam zu beteuern und Jesiden über die Straße zu begleiten, wären ungeachtet ihrer Gräueltaten von gestern sofort die Verständigen zur Stelle, die darin kein taktisches Manöver, sondern einen geänderten Sinneswandel zu sehen bereit wären. Andererseits verstummen die Stimmen der Unterstützer der Hamas nur kurz, wenn diese ihre Gegner ähnlich behandelt wie die IS es tut – man schaut dann eben mal kurz nicht so genau hin.

Sobald die Hamas ihre Reihen und Arsenale wieder aufgefüllt, die UNRWA, die EU, die Golfstaaten und der Iran wieder genug Geld in die Hamas gepumpt haben, wird der Konflikt wieder ausbrechen. Das UNRWA wird die Schulen wieder aufbauen, in denen vom UNRWA bezahlte Hamas-Lehrer mit von der EU bezahlten antisemitischen Schulbüchern eine weitere verlorene Generation herangezogen wird. Und solange dieser Teufelskreis nicht an der Wurzel unterbrochen wird, gibt es keine Perspektive für Gaza, keine Perspektive für Palästina. Die Chancen für diese Unterbrechung stehen leider nicht gut. Zu stark ist die islamistische Ideologie der Hamas bis in den letzten Winkel der Gesellschaft in Gaza gedrungen, zu schwach sind die Stimmen, die dort oppositionelle, mäßigende Meinungen vertreten. Oder zu tot.

Vor ziemlich genau neun Jahren, am 12.September 2005 verließ der letzte Israeli den Gazastreifen, nachdem alle dort befindlichen jüdischen Siedlungen – teilweise sogar mit Gewalt – geräumt wurden. Was darauf folgte war aber keinesfalls Frieden und Freiheit – obwohl es noch keine Blockade des Gazastreifens gab und die Gelder der Unterstützer reichlich flossen. Stattdessen kämpften Hamas und Fatah um die Macht in Gaza und die Angriffe auf israelisches Territorium nahmen zu, die Chance war vertan. Das oft gehörte Mantra vom „Land gegen Frieden“ hat offensichtlich nicht funktioniert. Jedes israelische Zugeständnis wurde auf der anderen Seite als Schwäche gewertet, weil ein Feind eben keine Zugeständnisse macht. Einem Feind muss man Zugeständnisse abpressen. Solange man in Gaza nicht bereit ist, diesen Feind endlich als Nachbarn und Partner zu begreifen – einen Nachbar zumal, dem man territorial nicht entkommen kann und auf dessen Unterstützung man tagtäglich angewiesen ist – wird sich nichts ändern.

Warum nun also die Ruhe im Blätterwald, wenn es um Gaza geht? Liegt es an der Waffenruhe, die momentan – mal besser mal schlechter – eingehalten wird? Das wäre möglich, aber kurzsichtig. Einer wirklichen Lösung des Konflikts ist man schließlich keinen Schritt näher gekommen. Die IS produziert deutlich schlimmere Nachrichten als der Gaza-Krieg? Stimmt, aber im Gaza Krieg waren die Journalisten viel näher dran. Man konnte bequem von einem Hotel in Tel Aviv aus berichten. Vielleicht ist es ja auch die Tatsache, dass es sich sowohl bei den IS-Schergen wie auch bei den Hamas-Kämpfern um erklärte Islamisten handelt, und man nur ungern darauf hingewiesen wird, dass man die in Gaza für verhandlungsfähig hält, während man die vor Erbil liegenden IS-Truppen gern mit deutschen Waffen erschießen lassen würde.

Dummerweise macht sich die ISIS auch nicht die Mühe, sich für Verhandlungen anzubieten. Die Hamas tut dies zumindest, verhandelt aber leider nicht über das Wesentliche: Das Existenzrecht Israels. Aber die Hamas-Vertreter nehmen in tadellosen Anzügen am Verhandlungstisch Platz und in Interviews geben sie belanglose Floskeln von sich, die man nach Belieben positiv auslegen kann. Das genügt uns schon. Nur mit der Ehrlichkeit der IS kommen wir nicht klar. Die halten sich nicht nur nicht an die Regeln, die tun nicht mal so! Unsere Empörung ist echt. Tief im Inneren wissen wir zwar, dass sich die finalen Ziele der Hamas nicht wesentlich von denen der IS unterscheiden, die Hamas tut uns aber den Gefallen so zu tun, als hätte sie diese Ziele nicht und wir machen uns nicht die Mühe z. B. in der Charta der Hamas nachzulesen, ob sich an deren Einstellung etwas geändert hat.

An appeaser is one who feeds the crocodile, hoping it will eat him last. (Winston Churchill)
Die Hamas lässt sich noch füttern, die ISIS schnapp schon nach unserem Bein. Gutes ist von beiden nicht zu erwarten und das sollten wir auch bei der aktuellen Nachrichtenlage nicht vergessen.

(veröffentlicht auf S T A N D P U N K T E)

Vorheriger ArtikelWie man die richtigen Fragen stellt
Nächster ArtikelAm Ende siegt der Zweifel