Es war ein Schrei, der aus einer längst vergangen geglaubten Zeit herüber wehte. Zunächst hielt man noch den Atem an, als die Nachricht von den beiden in Kusel kaltblütig erschossenen Polizisten eintraf, doch jeder mit einem Twitteraccount und 100 Followern wartete ungeduldig auf die zunächst unbekannten Details, forschte nach der Motivlage und stellte Vermutungen an zu Nationalität, Religion und politischer Schlagseite. Man munitionierte sich mit Argumenten auf, die einen für hartes Durchgreifen der Justiz und politische Konsequenzen, die anderen für Relativierung und die unbeantwortbare Frage, was zuerst da gewesen sei, die Polizeigewalt oder die Gewalt gegen die Polizei. Der Schrei war dann einer der Enttäuschung. Kein Islamist, kein radikaler Extremist. Auch die Murmeln saßen im Kopf der Täter nicht lockerer als beim Durchschnitt. Es handelte sich einfach um ein Verbrechen und den Versuch, es zu vertuschen. Es mal nicht wie heute üblich mit politisch aufgeladenen oder ideologisch motivierten Straftaten zu tun zu bekommen, überraschte sowohl die Polizei wie auch die mediale Öffentlichkeit. Die Überraschung war so gründlich wie das Verbrechen ungeeignet, daraus politisches Kapital zu schlagen. Die Bestürzung war echt und die Berichterstattung über die Morde so sachlich, wie wir es seit vielen Jahren nicht erlebt haben. Die Erkenntnis, dass es neben all den ideologischen Über- und Untertreibungen noch so etwas wie „gewöhnliche Verbrechen“ gibt, für deren Bekämpfung die moderne Polizei einst entwickelt wurde, wird hoffentlich Bestand haben.

Unter dem ideologischen Radar

Fast dankbar nimmt die Presse dann die sich anschließende Jagd der Polizei auf jene auf, die den Mord an den beiden Polizisten zum Anlass nahmen, das Netz mit ihren kruden Gewaltfantasien gegenüber der Polizei zu fluten und zur Nachahmung des Mordes aufriefen. Hier endlich konnte man die eingeübten Vokabeln und Narrative wieder Gassi führen und von Ermittlungen wegen „Hate Speech“ sprechen und wie der Tagesspiegel am 7.2.2022 von „fast 400 Hasskommentaren“ berichten, die nach dem Mord an den zwei Polizisten bei einem Verdächtigen gefunden wurden.

Doch die Ermittlungen galten gar nicht der Gefühlslage des Trittbrettfahrers, sondern seinem dedizierten Mordaufruf, den er noch dazu mit Geldbelohnungen umkränzte. Nicht die moralische Verkommenheit wird folglich Inhalt der Anklage sein, sondern der im Strafgesetzbuch klar beschriebene Sachverhalt des Mordaufrufs. Das öffentliche und vor allem das veröffentlichte Entsetzen gilt heute jedoch oft – besonders, wenn es auf Dauer gestellt werden soll – nicht der strafbaren Handlung, als der unerwünschten Haltung, was die Polizei immer häufiger in Konflikte zwischen ihrem Selbstverständnis, ihrem Auftrag und der medialen Projektion dessen bringt, was manche gern von der Polizei erledigen lassen würden oder wobei sie nicht im Weg stehen soll.

Der Doppelmord von Kusel rückt wieder ins Bewusstsein, dass die Verbrechensbekämpfung und damit auch der Einsatz der Polizei eigentlich ein völlig unpolitisches Feld sein muss.

Bei den Protesten anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg – wenn man nicht schon von Aufständen sprechen möchte – klangen die Einordnungen linker Medien weit weniger verständnisvoll als etwa bei der Auflösung oder Verhinderung von Demonstrationen sogenannter Querdenker. Während in Hamburg der Gebrauch von Stahlkugeln und Gehwegplatten als Wurfgeschosse gegen die Polizei gewissermaßen zur Brauchtumspflege gehören, stellen die auf Schildern hochgehaltenen Meinungen der „Querdenker“ ein Gesundheitsrisiko für die Menschheit dar und die Festnahmen könnten nach Einschätzung mancher Kommentatoren ruhig noch etwas härter durchgeführt werden. Nicht die Legitimität, sondern Sympathie und Antipathie für eine Sache entscheiden, wie ein Polizeieinsatz gesellschaftlich bewertet wird.

Doch gibt es rechtlich einen Unterschied zwischen einer Demo für die Mietpreisbremse und einem Protest gegen die Impfpflicht? Oder zwischen einer BLM-Veranstaltung in Vancouver und einem Truckerprotest in Ottawa? Rechtlich ist die Frage leicht zu beantworten: es gibt keinen. In der medialen Darstellung sieht das schon anders aus.

Haut die Bullen doch nicht platt wie Stullen?

Das in linken Kreisen und besonders an dessen gewaltbereiten Rändern zu beobachtende Ressentiment gegen die Polizei beruht meiner Meinung nach jedoch auf einem Missverständnis. Es stammt aus einer Zeit, in der linke Utopien sich in offener Konfrontation mit dem Staat befanden. Davon kann heute vielerorts nicht mehr die Rede sein, weil zumindest weite Teile der vormaligen Utopien Eingang in die praktische Politik gefunden haben. Wenn also etwa in den USA seit 2020 der Ruf der Black Lives Matter Bewegung nach Abschaffung der Polizei (Defund the Police) laut wird, so geht es weniger darum, die Polizei abzuschaffen, als selbst Polizei zu werden oder doch zumindest bestimmen zu können, was als Straftat im Sinne von BLM zu gelten hat und was nicht.

Die Gerichte bleiben dabei außen vor, zumindest so lange, bis auch sie auf Linie gedreht sind. Als im Juli 2020 in riesigen gelben Lettern in New York die Worte „Black Lives Matter“ auf die Straße gemalt wurden, verstieß dies klar gegen das Gesetz, welches jede Art auf Straßen gemalte politische Botschaft generell untersagt. Die Polizei hätte also die Straßenmaler verhaften und die Entfernung der Farbe veranlassen müssen. Doch stattdessen ließ Bürgermeister Di Blasio die Straßenmalerei rund um die Uhr von einem Dutzend NYPD-Polizisten vor „Vandalismus“ bewachen. Eingeklemmt zwischen Gesetz und Befehl entschied sich die New Yorker Polizei für die Weisungen der Politik und wurde so – zumindest für den Moment – zur politischen Polizei.

Oder, um es etwas zugespitzt und mit den Worten Dietrich Bonhoeffers zu sagen „Der Mann der Pflicht wird schließlich auch dem Teufel gegenüber seine Pflicht erfüllen müssen.“ Keine gute Entwicklung, wie ich anmerken möchte, denn sie sorgt dafür, dass sich die Polizei in ihrer Zusammensetzung verändert, weil sie Menschen anzieht, denen diese Richtung behagt und jene vertreibt, die darauf bestehen, dass Gesetze und nicht Politiker den Rahmen der Polizeiarbeit definieren.

Wenn zwei das gleiche tun

Wie unterschiedlich die mediale Reflexion von Polizeiarbeit ausfällt, kann man regelmäßig beobachten, wenn es um aktuelle Demonstrationen in Form von Straßenblockaden in Israel, Deutschland und Kanada geht. In Deutschland kleben sich die Aktivisten von „Essen Retten“ immer wieder auf die Fahrbahn der A100, im Jerusalemer Viertel „Sheikh Jarrah“ legten palästinensische Aktivisten ihre Gebetsteppiche (unter großer Anteilnahme der internationalen Presse) auf die Straße und in Ottawa weigern sich seit drei Wochen die Truckfahrer, ihre Fahrzeuge zu bewegen. Die Rechtslage ist eindeutig, in allen drei Fällen. Da kollidiert das Recht auf Demonstrationsfreiheit mit dem Straßenverkehrsrecht, alle drei Demonstrationen werden letztlich von der Polizei beendet.

Jedoch fallen die medialen Reaktionen auf den Polizeieinsatz höchst unterschiedlich aus. In der Betrachtung deutscher Medien handelt die israelische Polizei stets unverhältnismäßig, während es in Kanada die Trucker sind, denen man mit allerlei Tricks den Schwarzen Peter zuschiebt. Doch entscheidend ist, wie es nach der Auflösung einer Demonstration und nach einer Verhaftung weiter geht. Wie intakt sind die rechtsstaatlichen Verfahren, in welche die Polizeiarbeit eingebettet ist? Schaut man sich die Flut von Prozessen an, die in Israel den beendeten Demonstrationen folgen, scheint der Rechtsstaat in Israel noch weitgehend intakt zu sein. Die deutschen Aktivisten haben hingegen nichts zu befürchten und wie aufgebracht die gestoppten Autofahrer auch sein mögen, schlägt sich doch sogar die Politik auf die Seite der Klebekinder. Rechtliche Konsequenzen gibt es nicht. In Kanada hebelt Ministerpräsident Trudeau durch den ausgerufenen Notstand die Gerichte gleich ganz aus und legitimiert jede Polizeigewalt auf dem Verordnungsweg.

Was ist legitim, was ist populär, was ist gerecht? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, weil sie auf moralischen Kategorien beruhen. Ist etwa eine Demonstration gegen staatliche Coronamaßnahmen weniger legitim, wenn sie in Köln statt in Minsk stattfindet? Wer ist im Besitz des wertenden Maßstabs? Die Polizei steckt gerade in den sogenannten westlichen Demokratien immer wieder zwischen Baum und Borke, weil die Politik, getrieben von verfestigten Ideologien und den Medien, immer häufiger in Versuchung gerät, demokratische Prozesse abzukürzen oder zu umgehen und die Polizei als Werkzeug der Durchsetzung politischer Tagesziele benutzt. Jede Polizei ist eben nur so gut, wie die Politik, die sie steuert. Schlechte Politik ist die Ursache für schlechte Polizeiarbeit, erzeugt Misstrauen in der Bevölkerung, was zu noch schlechterer Polizeiarbeit und höheren sozialen Kosten bei der Rechtsdurchsetzung führt. Ein Teufelskreis, der direkt in die Despotie führen kann. Im Gedenken an die beiden in Kusel ermordeten Polizisten sollte sich auch die Politik daran erinnern, wie wichtig die Polizei für das Gemeinwesen ist und der Versuchung widerstehen, deren Reputation für politisch fragwürdige Tagesgeschäfte aufs Spiel zu setzen.

Zuerst erschienen in: Jüdische Rundschau, Ausgabe 3. März 2022 (91)

Vorheriger ArtikelRussischer Zupfkuchen mit deutscher Schlagsahne
Nächster ArtikelFreiheitsenergie und Liebesgrüße aus Caracas und Teheran