Sind Sie manchmal beim Lesen von Nachrichten oder als Zeitzeuge der Aktivitäten ihrer Mitmenschen peinlich berührt, verstört oder gar angeekelt? Blicken Sie in die Gesichter ihrer Mitmenschen, um festzustellen, ob es denen ebenso geht? Dann machen sie sich keine Sorgen, denn sehr wahrscheinlich wohnen sie der Entstehung von moderner Kunst bei. Moderne Kunst ist häufig anders und bringt im Publikum gänzlich neue Saiten zum Schwingen, als dies in überwundenen, patriarchalen Zeiten der Fall war. Und sei die angeschlagene Saite auch nur der Nervus vagus. Das jüngste Meisterwerk der „Frankfurter Hauptschule“, einem halbanonymen feministischen Künstlerkollektiv mit RAF-zweipunktnull-Attitüde, war jedoch nicht einfach ein Griff ins Klo! Stattdessen langte man gründlich daneben.
Nicht die in den Augen der Künstler verdienten Exkremente warf man nach Goethe, um den Antifeministen, Rösleinbrecher und alten weißen Mann aus Weimar hart zu treffen. Man griff zu gerolltem und gebleichtem – womöglich mehrlagigem – Toilettenpapier und holte kräftig aus. So entsteht heute Kunst, ein wirklich großes Geschäft! Zu dumm nur, dass im Gegensatz zur Kunst Goethes kein Blättchen davon auf die Nachwelt kommen wird und während Artefakte oder Handschriften des Geheimen Rates hoch geschätzt werden, verursachte der öffentliche Unrat der Neukünstler nur Reinigungskosten von 400 Euro. Geschätzt, versteht sich.
Doch lassen wir die Frankfurter Hauptschüler mal beiseite. Um erfolgreich an Goethes Sockel pinkeln zu können, braucht es ohnehin größere Terrier. Vergeben, vergessen. Auch muss man wohl bei Menschen, die keine Politiker sind, etwas großzügiger mit Prinzipien umgehen, denn einer der aktuellen Slogans der „Frankfurter Hauptschule“ lautet ja „Unsere Kunst ist nicht stubenrein, unsere Kunst ist amoralisch. Und das ist gut so“, was die moralisierende Goethe-Anschmutzung doch irgendwie ins Reich des Absurden schiebt, wo sie ja auch hingehört. Wenn postulierte Amoral über unterstellter Amoralität den Hammer hebt, kommt nur selten ein Urteil von Bestand dabei heraus.
Moralisierung und Selbstüberhöhung
Und doch wird hier etwas thematisiert, was sich wie ein roter Faden durch die letzten Jahre überschäumender öffentlicher Moralisierung und Selbstüberhöhung zieht. Vielleicht sogar absichtsvoll, gewissermaßen als Spiegelung – und nur dann fände diese alberne Performance vor dem Weimarer Goethehaus meinen Beifall.
Es ist nämlich eine schlechte, neudeutsche Angewohnheit, mit der eigenen intellektuellen und moralischen Elle (als Smartphone-App womöglich) durch die Geschichte zu wandern und auf dem Weg zurück in graue Vorzeit links und rechts moralische Ohrfeigen zu verteilen. Goethe stellte deutlich jüngeren Frauen nach, Kant war ein Pedant, Luther war ein belfernder Antisemit, Churchill war im Grunde ein Kolonialist, James Joyce war Alkoholiker…überall findet man was zu kritteln, niemand kommt auf den Gedanken, dass es vom logischen Standpunkt aus unzulässig ist, auf diese Weise in der Gegenwart in Angelegenheiten Urteile über die Vergangenheit zu fällen, von denen diese nichts wissen konnte.
Ein Urteil kommt, wenn überhaupt und wenn es sich nicht gerade um Schwerverbrecher handelt, Zeitgenossen und Nachfolgern zu, die noch nahe genug am Zeitgeschehen sind, um den Ort im See bezeichnen zu können, wo der Stein das Wasser durchbrach, anstatt sich Jahrhunderte später über das Kräuseln der Wellen am Ufer lustig zu machen und zu behaupten, man könne das viel besser. Die Richter sind sich in der Betrachtung sowohl im Fall Goethes als auch Luthers, Kants oder Joyce einig: Das Genie überstrahlt die sonstigen Unzulänglichkeiten bei Weitem, die durch die Betrachtung mit neofeministischer Brille entstehen könnten.
Es geht der Mensch, es bleibt die Kunst. Und ist es nicht seltsam, dass man dank modernster Erkenntnisse der Gender-Wissenschaft heute zwar 64 unterschiedliche Geschlechter identifizieren (bei Mondschein 65) und ihnen individuelle, unveräußerliche und nicht verhandelbare Rechte zuordnen kann, jedoch bei Goethe, der seit 187 Jahren als Mensch tot ist, nicht in der Lage zu sein scheint, die Unsterblichkeit und Unteilbarkeit seines Werkes anzuerkennen?
Mach nicht kaputt, was dich kaputt machen kann
Dabei ist man als „progressiver Künstler“ heute in der Wahl der seiner Zielscheiben sehr selektiv und bedenkt das Echo, das einen erwartet. Man schafft es gerade mal, Göttern der Kunst wie Goethe ans Bein zu pinkeln, schreckt aber vor selbst ernannten Propheten zurück, denen man aus heutiger Sicht dieselben Vorwürfe mangelnden Feminismus machen könnte. Ein Germanist, der vor Wut schäumend über so viel Impertinenz den Zauberlehrling zitiert, macht dem modernen Spötter keine Furcht – zu Recht. Ein Schriftsteller, der die „Satanischen Verse“ schreibt, muss sich hingegen für den Rest seines Lebens versteckt halten – aus gutem Grund. Die Frage, ob Goethe den Maßstäben des 21. Jahrhunderts in Sachen Emanzipation und Frauenrechten entsprechen kann, ist nicht zu beantworten – schon deshalb, weil sie sich nicht stellt. Kommt man mit derselben Elle aber einem gewissen Religionsstifter aus dem 7. Jahrhundert zu nahe, sind der empörte Aufschrei und die Beteuerung kultureller Bereicherung groß.
Jede Zeit hat ihre Symbole und wenn Goethe im 18. Jahrhundert noch keine Begriffe für Feminismus, moderne Kunst, Regietheater oder für von Weltgerechtigkeit fantasierende Künstlerkollektive hatte, so würde er umgekehrt die beabsichtigte Symbolik in dem gerollten und saugfähigem Papier nicht erkennen, denn das Toilettenpapier in dieser Form wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Diese Kunstaktion der „Frankfurter Hauptschule“ bleibt also einerseits in der Metapher stecken, füllt diese aber auf der anderen Seite mit Bedeutung: Die Realschul- oder Gymnasialempfehlung wurde zurecht verweigert.
Das, was in Weimar gezeigt wurde, war eben Hauptschulniveau – in bzw. aus Frankfurt natürlich. Womit hier ausdrücklich kein Generalverdacht gegenüber Hauptschulen-insbesondere denen aus dem dunkleren Teil Deutschlands ausgesprochen werden soll. Der dunkelste Teil ist Pisa-Studien zufolge der hellste Fleck im Land.
Möchte mal wissen, ob und wann sich solch „Gelichter“ an Jean Jacques Rousseau abarbeitet. Da besteht zwischen Schriftwerk und Leben ja auch eine erhebliche Distanz.
In dem Zusammenhang habe ich mal wieder nachgeschaut, und ja, Humboldt Uni umbenennen ist immer noch online. Das beste Vorschlag dazu ist immer noch: Humbug Uni.
http://humboldtumbenennen.blogsport.eu/
Danke. Ganz allgemein ist die Art des Umgangs mit Geistesgrößen interessant. Der altmodische Typus erkennt die Leistung an (a), und (b) bemüht sich, selbst zu lernen und höher zu kommen. Der neumodische Typus ist seit 30-40 Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, irgendwie zu sich herunter zu ziehen („vom Podest holen“). Dadurch entfällt die Notwendigkeit, sich anzustrengen, das vertikale Moment fehlt. Und so flottiert man komfortabel im Sumpf der Gleichheit, aus dem man allerdings hektisch die Stimmchen ertönen lässt und die Ärmchen schwenkt, denn irgendwie anders (besser) als andere möchte man ja schon sein. Die KünstleriXXXen hätten ja auch eine Satire, eine Parodie auf Goethe schreiben können, wie das anderen gelang. Das allerdings setzte ausreichende subkraniale Substanz voraus, sowohl im Sinne der Kenntnisse als auch im Sinne der intellektuellen Kapazität. Süß ist auch die Konnotation. Andere, Robustere werfen gleich mit Kot, schließlich gelten Blechdosen mit Kot als ausstellungswürdige Kunst, hier aber wollte man offenbar künstlerisch andeuten, vielleicht auch feinsinnig das Purgatorische herausstellen. Ich hoffe, es war Papier der billigsten Sorte, um die Wertschätzung angemessen auszudrücken. Ich hoffe, dass es eine Bätscheler-Arbeit in Sozial- und Kulturwissenschaften geben wird, in der das alles herausgearbeitet wird, und ich hoffe auch, dass es aus „Demokratie leben“ Geld für die KünstleriXXXen gibt, die soviel Hallltung zeigten
Ähnliche Gedanken kommen mir auch immer beim Lesen über solche und ähnliche Aktionen.
Allerdings sind wir damit nicht allein. Solche Tendenzen findet man auch z.B. in den USA.
Selbst in der DDR kannte man ähnliches. Da wurde aus Mozart ein Kämpfer für Frauenrechte, aus Beethoven ein Revolutionär und aus Luther ein Kämpfer für die Rechte der Bauern.
Vielleicht ist es ja auch nur die Erkenntnis der eigenen Mittelmäßigkeit, die manche zu solchen Aktionen treibt.
Und dann fällt mir wieder das alte Sprichwort ein: Was störts die Eiche wenn sich ein Schwein dran reibt.
Gauß war übrigens ein echter Stinkstiefel. Und dennoch ein Superhirn. Wenn man bedenkt, dass die Hälfte dessen, was als „künstliche Intelligenz“ zählt, im Grunde auf Gauß‘schem Mist gewachsen ist. Herrlich! Zum Glück war Gauß Mathematiker und von daher für die Herren und Fräulein von der Frankfurter Hauptschule quasi nicht-existent.
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