Die Wahlen zum Sprecher des US-Repräsentantenhauses gestalten sich haarsträubend: Die Demokraten wählen geschlossen ihren Kandidaten, die Republikaner können sich nicht einigen. Was ist da los?

Der Reading Clerk liest den Namen zur Abstimmung nur genau zweimal laut vor. Wer aufgerufen ist und nicht antwortet, hat jedoch am Ende der Abstimmung noch eine Chance, bei den Nachzüglern aufgerufen zu werden. Viele „McCarthy“ (Republikaner) werden als Antwort auf den Ruf des Clerk gerufen. Aber noch mehr „Jeffries“ (Demokraten). Denn es melden sich auch immer wieder „Donalds“ (Republikaner), nachdem bei den ersten drei Abstimmungen viele „Jordan“ (Republikaner) zu hören waren. Wir sind mittlerweile in Abstimmung Nummer zehn über die Nachfolge Nancy Pelosis als „Speaker of the House“, dem Sprecher des Repräsentantenhauses der USA.

Die „rote Welle“ mag ja ausgeblieben sein, aber diese Kammer des Parlaments haben die Republikaner zahlenmäßig zurückgewonnen, und der Posten des Sprechers, welcher der größten Fraktion zusteht und der als dritte Kraft im Staat hinter Präsident Biden und Vize Harris gilt, ist den Republikanern eigentlich sicher. Doch auch nach zehn Wahlgängen ist noch nicht ausgemacht, wer als Speaker im Kongress direkt unter der US-Flagge Platz nehmen wird. Daran hängt einiges, zum Beispiel die Zusammensetzung der Ausschüsse und bis sich das Parlament arbeitsfähig konstituieren kann, sind die Abgeordneten nur „representative elect“.

Was ist da los? Überall reibt man sich verwundert die Augen. Diese Republikaner sind sich ja überhaupt nicht einig! Während die Dems geschlossen und geradezu genüsslich Mal um Mal namentlich für ihren „great honorable Hakeem Jeffries“ stimmen, weigern sich etwa 20 Republikaner, ihrem Parteikandidaten den lang ersehnten und sicher geglaubten Posten zu verschaffen. So sicher war sich McCarthy, dass er schon in die Amtsräume des Sprechers eingezogen ist. Nur zur Erinnerung: In der Wahrnehmung vieler sturheil auf Parteilinie stimmenden Dems sind die zerstrittenen Reps – besonders die Anhänger Trumps – buchstäblich Faschisten, die aber offensichtlich und seltsamerweise ihrem „Führer“ nicht folgen wollen. Auch nach zehn Wahlgängen schaffte es McCarthy nicht, auch nur einen einzigen der 20 Abtrünnigen dazu zu bewegen, für ihn zu stimmen (Anm. d. Red.: Die Republikaner haben aktuell mit 222 Sitzen die Mehrheit im US-Repräsentantenhaus, gegenüber 213 Sitzen der Demokraten. Für eine Mehrheit bei der Wahl des Sprechers sind 218 Stimmen nötig.)

„Lager der Zwanzig“

Weil so richtig niemand versteht, was da gerade passiert, arbeitet man sich in der Presse an den Personen ab, die hinter dieser Palastrevolte zu stehen scheinen. Sind das nicht alles erzkonservative Trumpisten, Wahlleugner und Verschwörungstheoretiker? Doch seltsamerweise ist die Abgeordnete, der die Presse bisher am häufigsten diese Injurien angeheftet hat, nun aus der Schusslinie: Marjorie Taylor Greene stimmte gemäß der Empfehlung Trumps stets für McCarthy, und es ist schon erstaunlich, wie konformistisches Wahlverhalten und Berichterstattung miteinander korrelieren.

Ich finde es bemerkenswert, dass eine Tatsache in der Presse so gar keine Beachtung findet. McCarthy ist eine Personalie, die Trump empfohlen hat, und die angeblich größten „Trumpisten“ verweigern ihm die Stimme. Seltsam, oder? Eine Empfehlung von Trump war bis vor kurzem noch ausreichend für die Presse, denjenigen in Bausch und Bogen zu verdammen. Nicht so in diesem Fall. Das ist Doppeldenk in Vollendung!

Dabei ist das „Lager der Zwanzig“ nicht so geschlossen, wie man annehmen mag. Es sind viele dabei, die einfach die Gelegenheit nutzen, ihre Zustimmung von politischen Zugeständnissen und Sitzen in den Ausschüssen abhängig zu machen. Aber da sind auch die „Never-Kevins“, die McCarthy für einen Umfaller und Opportunisten halten, der am Ende sowieso jede Sauerei der Dems mittrüge, wenn ihm das den Posten sichere.

Die Vehemenz, mit der McCarthy nach dem Amt strebt, macht sie misstrauisch. Dass ausgerechnet Trump ihn unterstützt, noch viel mehr. Denn McCarthy gehörte zu denen, die glaubten und vertraten, Trump arbeite mit den Russen zusammen und stecke federführend hinter dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Kaum jedoch besucht McCarthy Trump in Florida, unterstützt dieser seine Ambitionen auf das Amt des Speakers. Gab es da einen Deal? Was konnte McCarthy Trump geben?

Ruhe vor Rachefeldzügen des Kongresses

Wir verlassen jetzt kurz den Raum gesicherter Erkenntnis und spekulieren. Die Dems haben seit der Wahl Trumps im Jahr 2016 nichts Wichtigeres zu tun, als diesen hinter Gitter zu bringen oder doch zumindest so stark zu beschädigen, dass er 2024 nicht noch einmal antreten kann. Die zwei erfolglosen Impeachments, der nächtliche Besuch des FBI in Mar-a-Lago und die jahrelangen Medienkampagnen haben Trump müde, ja, mürbe gemacht. Sicher kommt das Alter noch dazu, auch wenn sich dieses nicht so stark bemerkbar macht wie bei Präsident Biden.

Die Ankündigung Trumps erneuter Kandidatur war seltsam schlapp, und als er vor einigen Wochen von einer „großen Ankündigung“ sprach, die er machen werde, wollte er am Ende nur alberne Sammelkarten von sich selbst verkaufen. Ich glaube, Trump hat die Nase voll von der Politik und will lieber Golf spielen. Seine erneute Kandidatur entzieht ihn zwar einigen der Angriffe, aber nur McCarthy könnte ihm als „Speaker oft the House“ das geben, was er sucht: Ruhe vor den Nachstellungen und Rachefeldzügen des Kongresses. Wie gesagt, alles nur Spekulation.

Wir haben es bei den 20 Verweigerern bei den Reps also weniger mit „Trumpisten“ zu tun als mit Populisten. Populisten, die jeder auf unterschiedliche Weise genug haben von den Absprachen und Hinterzimmerdeals, von Korruption, Lobbyismus und Stimmenkauf. Offenbar trauen sie McCarthy bei all seinen Zugeständnissen nicht zu, das politische Betriebssystem zu verändern. Einige konnten wie Lauren Boebert ihre Wahlkreise nur mit äußersten Mühen verteidigen oder gewinnen. Dass es so knapp war, lag so manches Mal an der ausbleibenden oder entzogenen Unterstützung durch die Republikanische Partei, die lieber auf handverlesene Kandidaten aus dem Establishment setzte, als sich mit den Populisten gemein zu machen, zumal wenn diese auch noch eine Empfehlung von Trump hatten.

Die Geschichte wiederholt sich

Schon einmal hatte es eine Partei in den Staaten mit der Situation zu tun, dass eine populistische Bewegung an der Basis damit drohte, den Weg an die Macht zu verstellen. In den Midterms 2018 hatten die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückerlangt, und Nancy Pelosi kandidierte für das Amt des Sprechers. Doch da gab es ein kleines Grüppchen linkspopulistischer Abgeordneter, die in ihren Wahlkämpfen erklärt hatten, den Sumpf in Washington trockenzulegen – ganz populistisch –, dem Volk zu seinem Recht zu verhelfen. Wichtigster Punkt: kostenlose Gesundheitsversorgung für alle!

Die Presse, die gerade an den 20 populistischen Reps kein gutes Haar lässt, nannte die populistischen Dems damals bewundernd „The Squad“, also „Team“ oder „Kommando“. Und „The Squad“ drohte Pelosi offen damit, nicht für sie zu stimmen, sollten sie nicht (unter anderem) die Zusicherung bekommen, das Gesundheitssystem werde in ihrem Sinne umgebaut.

Aber ach, es wurde nichts daraus. Kaum gewählt, traten Alexandria Ocasio-Cortez & Co. zurück ins Glied, stimmten brav für Pelosi und bekamen nichts dafür. Zu ihrer Verteidigung erklärten die Squad-Mitglieder, dass die Dems nur so wenige Stimmen Vorsprung gehabt hätten, dass Einigkeit wichtiger war. Hätte man gegen Pelosi gestimmt, wäre der damalige Kandidat der Reps gewählt worden: McCarthy!

Verwundert und entsetzt reiben sich die Populisten an der Basis der Dems nun die Augen, weil sie nach nunmehr zehn Wahlgängen erkennen müssen, dass sie 2019 betrogen wurden. Es drohte 2019 mitnichten die Wahl McCarthys, weil kein Abgeordneter der Dems für ihn stimmen würde, denn das hätte den Verlust des Mandats durch Abwahl (in zwei Jahren oder in einem Recall) zur Folge. Gleiches gilt für die umgekehrte Situation heute. „The Squad“ war nur mit dem Versprechen angetreten, das System zu ändern. Einmal gewählt, arrangierte man sich jedoch sofort und willig mit der Macht. Opportunismus, wie er bekanntlich auch bei uns in Deutschland gang und gäbe ist.

Ausgang offen

Jedes Zugeständnis, das der Freedom Caucus vor der Wahl McCarthys nicht bekommt, ist verspielt. Die Limitierung der Anzahl von Amtszeiten im Kongress, das Ende der Einmischung in die Vorwahlen von Seiten der Parteispitze und vieles mehr steht auf dem Wunschzettel. Außerdem ist noch völlig offen, ob sich die Never-Kevins überhaupt werden umstimmen lassen oder ob es am Ende einen anderen Kandidaten für das Sprecheramt geben muss.

Das Einzige, das hilft, Politiker von der Macht fernzuhalten, ist, sie ihnen nicht auf dem Silbertablett zu servieren. Die Populisten unter den Demokraten lernen das gerade von denen der Republikaner. Wir sollten die Wirkung dieser Lektion nicht unterschätzen. Oberflächlich betrachtet, beschädigt die Weigerung der Zwanzig die Republikaner. Schaut man etwas tiefer, treiben die Vorgänge auch einen Keil zwischen die Demokraten und deren Wählerbasis, denn dort lernt man gerade, dass Widerstand belohnt und Konsens bestraft wird.

Auch in den Staaten verlieren die allmächtigen Parteien offenbar die Macht über ihre Mitglieder. Immer mehr Abgeordnete fühlen sich in erster Linie ihren Wählern und den Versprechen verpflichtet, die sie ihnen gegeben haben. Sie lassen sich nicht mehr für die Aufrechterhaltung des Status quo benutzen. Die alten Gewissheiten lösen sich auf. Im Grunde ist das was Gutes. Und spannender als ein „Tatort“ ist es auch.

Zuerst erschienen auf achgut.com

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4 Kommentare

  1. Mittlerweile überholt: Der Mann ist gewählt. Und die 20 haben sehr vernünftige Zusagen herausgehandelt.

    Also ein Sieg für die Demokratie, die man hier von den Republikanern vorgeführt bekam. MAn schaue sich zum Vefgleich die Parteienabstimmungen im BT an.
    (Rühmliche Ausnahme: Die Niederlage des Impfpflicht-Gesetzentwurfes.)

    • Der Artikel war natürlich eine Momentaufnahme und entstand, als Wahlgang 10 und 11 gescheitert waren. Und ja, McCarthy wurde mittlerweile gewählt. Die Never-Kevins konnten ihr Versprechen halten, nicht für McCarthy zu stimmen, weil sie „present“ votierten und damit die zu Zahl der nötigen Stimmen senkte. Die anderen schafften es, wichtige Zusagen auszuhandeln, etwa die Defizit-Beschränkung oder der Ausschluss der sogenannten Omnibus-Bills oder die gesenkten Hürden für ein Misstrauensvotum. Und die Basis der Demokraten schäumt wie beschrieben vor Wut auf „The Squad“ und deren Stichwortgeber in den Medien, immer noch! Alles das ist natürlich ein Gewinn für die Demokratie, aber das habe ich im Artikel ja auch nie anders dargestellt. 😉

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