Die aufgeweckten unter den Kindern kennen und beherrschen eine Methode, ihre Eltern und Großeltern in den Wahnsinn zu treiben. Mit der wiederholten Frage „Warum?“ kann man die nämlich dazu bringen, einen Gegenstand oder eine Regel in immer kleinere Bestandteile zu zerlegen und Argumente bis zu ihrem Kern zu entkleiden. Meist enden diese Q&A-Ketten abrupt, nachdem die Kinder ihre Eltern in Widersprüche verwickeln konnten und deren Antworten nicht mehr konsistent sind. Eltern merken das und reagieren mit dem argumentativen Befreiungsschlag „Weil das so ist“, ergänzt manchmal noch um den autoritären Hinweis: „Weil ich es Dir sage!“. Nun wissen wir, dass diese kindlichen Fragen nur selten auf einen echten Erkenntnisgewinn zielen, sondern der Spaß für das Kind darin besteht, Mutter oder Vater auf Kommando Aussagen zu entlocken und ins Schwitzen zu bringen. Manche Kinder nehmen die „finale Antwort“ einfach hin – andere nicht.
Das Spiel wird nämlich per Machtwort beendet, hinter dem kein Erkenntnisgewinn mehr möglich ist. Wozu dieses Beispiel, fragen Sie sich? Dieses Bild kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich von so manchen Rechtsstreitigkeiten zwischen Bürger und Staat lese, die vor Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten ausgetragen werden. Sowohl Machtverhältnisse als auch der Geltungsanspruch sind dort ähnlich ungünstig verteilt, ähnlich wie bei „Warum“-Frageketten zwischen den Generationen. Wenn die Gesprächsbereitschaft endet, setzt die Weisungsbefugnis ein – besonders dann, wenn die Widersprüche oder gar die Ungesetzlichkeit staatlichen Handelns offensichtlich werden. Da gibt es immer wieder ein „warum“ zu viel.
Das Grundgesetz zur Selbstverteidigung genutzt
In letzter Zeit, also seit etwas mehr als zehn Jahren, also etwa seit Amtsantritt unserer ewigen Kanzlerin, hört und liest man immer wieder von Bürgern – manche von ihnen nannte und nennt man despektierlich „Wutbürger“ – die sich in Artikeln, auf Demos und Parteitagen auf den historisch ältesten Teil unseres Rechtssystems berufen: das Grundgesetz. Das hat mehrere Gründe. Erstens sind dessen 146 Artikel mit ihren nur wenigen Abzweigungen und Verschachtelungen überwiegend mustergültig klar. Zumindest, sofern sie nicht durch nachträgliche Bauarbeiten verklausuliert wurden. Auch Laien unter den Bürgern – und die stellen ja bekanntlich die Mehrheit – sind in der Lage, ihre darin niedergeschriebenen Rechte zu erkennen und diese Tatsache war sicher von den Schöpfern des Textes beabsichtigt worden.
Schon aus diesem Grund haben die Verfasser hohe Hürden für Änderungen errichtet. Zweitens regelt das Grundgesetz die Beziehungen zwischen dem einzelnen Bürger und dem Staat mit all seinen Entitäten. Es zieht Grenzen, die der Staat nicht überschreiten darf, wenn auch einige wichtige Definitionen fehlen oder sehr schwammig formuliert sind. Zum dritten gibt es mit dem Bundesverfassungsgericht eine national finale Gerichtsinstanz, welche die deutsche Rechtspraxis immer in Bezug zu diesem kleinen und schlanken Gesetzbüchlein setzt. Die Tatsache, dass die Zahl der Anrufungen dieses Gerichts in den letzten Jahren zumindest gefühlt stark gestiegen ist, lässt vermuten, dass einige Bereiche des politischen Alltags sich mehr und mehr an eben diesen Grundrechten vergreifen. Das Empfinden von Unsicherheit sorgt bei vielen Bürgern dafür, ihre Nasen nach langer Zeit einmal wieder in das Grundgesetz zu stecken um festzustellen, ob das, was ihnen da in vielerlei Hinsicht zugemutet wird, noch den Intentionen unserer Verfassung entspricht. Und finden sich offensichtliche Rechtsbrüche, gilt häufig das Wort Voltaires, welcher feststellte, dass es gefährlich sei, recht zu haben, wenn der Staat unrecht hat.
Die Sache mit dem Bargeld
Über Geld werden Sie im Grundgesetz kaum eine Aussage finden. Mit Ausnahme der Tatsache, dass der Bund dafür zuständig sei, sich um die Währung zu kümmern, was er dann im Bundesbankgesetz ja auch tut. Dort wird in der Ausgabe von 1957 in §14 (1) festgelegt, dass Banknoten das einzige, unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel seien. Gewiss, es gibt auch andere Zahlungsmittel, aber die sind eben nicht unbeschränkt und einzig. Im Zuge der Einführung des Euro gab die Bundesbank diese Definition eine Ebene nach oben ab und jetzt ist es die EZB, die jedoch genau derselben Auffassung ist: „Die von der Europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken ausgegebenen Banknoten sind die einzigen Banknoten, die in der Union als gesetzliches Zahlungsmittel gelten.“ Heißt es in Artikel 128 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Nun ist Bargeld eine höchst umstrittene Sache. Es gibt deshalb in letzter Zeit verstärkte Bemühungen, es ganz abzuschaffen. Die Frage, warum man das tun sollte, wird auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet. Es sei nur zu unserem Besten, sagen die einen. Man könne die Steuerehrlichkeit dadurch „verbessern“ und die Kriminalität bekämpfen. Das sind jedoch schwache Argumente, denn die Steuerehrlichkeit hängt in erster Linie davon ab, ob die Steuern in ihrer Höhe als gerechtfertigt empfunden werden und die größten Raubzüge finden heute ohnehin online statt. Auch wird es gern so dargestellt, als sei das Bargeld als solches eine Belastung und mit einem Stück Plastik wäre die Welt ein Stückchen einfacher. Doch ich will hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, wie stark man sich durch den Verzicht auf Bargeld abhängig macht vom Wohlwollen des Staates, der dann die Möglichkeit hätte, mit einem Federstrich und ohne Gegenwehr jede Enteignung eines Bürgers vornehmen zu lassen, die ihm gerade als zweckmäßig oder geboten erscheint. Dazu an anderer Stelle mehr. Ich möchte auf einen Fall verweisen, in dem das Bargeld sich als Waffe gegen eben diese Willkür erweisen würde, weshalb seine Benutzung unter fadenscheinigen Begründungen von staatlicher Seite schlicht untersagt wird.
Die GEZ – nichts für bare Münze
Die GEZ ist eine der unbeliebtesten Einrichtungen in diesem Land. Immer mehr Bürger sind der Meinung, dass sie die Gebühren, die ja keine Steuern sind, aber sich wie Steuern anfühlen und ebenso durchgesetzt werden, nicht bezahlen müssen, weil sie die Angebote von ARD und ZDF nicht nutzten. Da kennt der Staat jedoch kein Pardon, die Zahlungen werden notfalls durch Pfändungen oder Beugehaft erzwungen. Bei dem einen oder anderen „GEZ-Kunden“ setzte daraufhin der zivile Ungehorsam ein und sie bestanden darauf, die 17,50 Euro Monat für Monat in Bargeld auf den Tisch des Landesfunkhauses zu zählen. Kein Zweifel, vor den Kassen der Sender wären lange Schlangen an der Tagesordnung und all die Klebers, Gauses und Maischbergers müssten neben ihren Sendepflichten auch gelegentlich Fünfcentstücke zu Röllchen bündeln. Das möchte man verhindern, weshalb zum Beispiel der Hessische Rundfunk in seinen Rundfunkstaatsvertrag in § 10 hineinschreibt, dass nur Überweisungen und Lastschrift erlaubt seien, keinesfalls jedoch Bargeld! Soweit kommt’s noch!
Doch da bekanntlich Bundesrecht Landesrecht bricht (Artikel 31 GG ist mit drei Worten der kürzeste und klarste von allen) und sowohl Bundesrecht als auch EU-Recht das Primat des Bargeldes erklären, kann hier irgendwas nicht stimmen. Das dachten sich auch Norbert Häring, Wirtschaftsjournalist beim Handelsblatt und sein Anwalt Carlos A. Gebauer* und klagten vor einem hessischen Verwaltungsgericht gegen die ihrer Meinung nach unzulässige Einschränkung im Zahlungsverkehr. Ich erspare ihnen hier die meisten Antworten, die Häring und Gebauer auf ihre „Warum“-Fragen erhalten haben und verweise auf den Blog von Norbert Häring. Interessant sind jedoch einige Formulierungen im bisher finalen „Basta“ im Berufungsurteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 13.2.2018. Das Gericht stellte beispielsweise fest, dass Banknoten zwar allgemeines Zahlungsmittel seien, aber eben nur bei Barzahlung. Diese Feststellung ist ebenso wahr wie überflüssig. Dass zum Beispiel nur Katzen einen Katzenschwanz haben, ist eine sowohl korrekte aber auch unstrittige Feststellung, weil andere Tiere ja prinzipiell keine Katzenschwänze haben. Wenn Gerichte Weisheiten von solch entwaffnender Schlichtheit verbreiten, ist eindeutig etwas faul! Weiter heißt es in der Urteilsbegründung:
„So wie im Privatrechtsverkehr vertraglich eine andere Abrede getroffen werden kann (..), kann im öffentlich-rechtlichen – durch das Über-/Unterordnungsverhältnis geprägten –Bereich die Rechtsbeziehung zwischen (…) öffentlich-rechtlichen Institutionen und rechtsunterworfenen Bürgern eine Rechtsvorschrift ebenfalls anderes regeln und eine von der Barzahlung abweichende Zahlungsweise ausdrücklich vorschreiben, ohne dass hierdurch der Anwendungsbereich des §14 Abs. 1 Satz 2 BBankG tangiert wird.“
Ich weiß ja nicht, wie meine Leser diesen Satz auffassen, aber ich greife mir unwillkürlich wie nach einer Ohrfeige an die Wange und flüstere leise „autsch“. Das Über-/Unterordnungsverhältnis ist damit geklärt, der Staat hat ein Machtwort gesprochen, das Gericht bestätigt dessen Autorität. Das Kind sollte jetzt mit diesem ewigen „warum“ aufhören. Vielleicht haben die Richter bemerkt, dass ihr Argument mit dem Bargeld als einzigem Bargeld nicht mehr der Wahrheitsfindung diente und die Kläger zum Lachen brachte. Nun also noch schnell ein „Basta“ hinterhergeschoben und falls dies die Diskussion nicht final beendet, kommt gleich noch ein weiteres hinterher:
Die Definition des Zahlungsmittels Bargeld durch die Bundesbankgesetzes, so die hessischen Richter, k ö n n e gar nicht so gemeint sein, wie es der Kläger versteht!
Was die Verfasser des Grundgesetzes und anderer Bundesgesetze beabsichtigten, bestimmt der Staat
Der Punkt, den das Gericht hier gesetzt hat, klingt nach und wiegt tonnenschwer! Es handelt sich um nichts weniger als um die dem Staat zugebilligte Freiheit, verfassungsmäßige Grundrechte per Interpretation so umzudrehen und zu verbiegen, dass sich deren Bedeutung ins Gegenteil verkehrt. Die im Grundgesetz versammelten Artikel stellen größtenteils sogenannte Abwehrrechte dar, das bedeutet, sie sorgen dafür, dass der Staat dem Bürger nicht zu nahekommt. Bisher war das so. Jetzt ist es offensichtlich anders. Die Bedeutung des Bargeldes im Bundesbankgesetz ist da sicher nur der Anfang einer generellen Neuinterpretation!
Wer sagt eigentlich, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes im ersten Artikel, der von der Würde des Menschen spricht, nicht jene ausgeschlossen haben, die wir für unwürdig erklären? Die Würde des Menschen mag ja unantastbar sein – aber wer sagt denn, dass jeder Mensch eine Würde hat? Weil das nicht im Grundgesetz steht, kann man das doch nach Belieben festlegen. Jedem, der zum Beispiel in der „Erklärung 2018“ seine Sorge vor unkontrollierter Massenmigration zum Ausdruck bringt, könnte man pauschal die Würde entziehen – dann fällt es moralisch auch viel leichter, Freund von Feind zu unterscheiden. Gehen Sie einfach gedanklich durch die Artikel und versuchen sie, „Ausnahmen“ zu konstruieren, weil die Verfasser diesen oder jenen Einzelfall unmöglich „so gemeint“ haben können.
Spricht Artikel 3 noch davon, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien, haben die Verfasser doch sicher nicht jene Menschen includiert, die heute als Rassisten und Nazis abgestempelt werden. Die muss man folglich gar nicht vor Gerichte bringen und darf sie nach Bedarf auf der Straße angreifen und erschlagen – sicher wäre das den Verfassern recht und die Antifa schreitet nach dieser Selbstermächtigung überall munter zur Tat! Oder nehmen wir Artikel 5, der die Meinungsfreiheit definiert. Hier war doch sicher nur von der richtigen Meinung die Rede – alles andere ist Hass und Hetze und darf durch „Maßnahmen“ beendet werden. Nach der Urteilsbegründung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes gilt nicht mehr, was in Bundesgesetzen geschrieben steht, sondern das, was nach Auffassung des Gerichtes damit gemeint war! Das Grundgesetz, in das der Protest wild entschlossen seine Füße stemmt und ausruft „bis hier her und nicht weiter“, wird per Definition zum unzuverlässigen Treibsand. Der Inhalt des Grundgesetzes gilt in diesem Land bereits nicht mehr als „common sense“, es gibt Menschen, die sich darauf berufen dürfen, und Menschen, denen dieses Recht abgesprochen wird. Und kann man in Artikel 14 Absatz 2, wo von „Eigentum verpflichtet“ die Rede ist, nicht flüssig weiterdenken „…, es der Allgemeinheit zu überlassen.“? Das muss man einfach mal sacken lassen.
Nun kann man natürlich argumentieren, dass es sich hier um eine Petitesse handele – die Zahlungsverpflichtung als solche steht ja gar nicht zur Disposition und der Staat versucht sich nur dagegen zur Wehr zu setzen, um von seinen renitenten Bürgern nicht übermäßig in Anspruch genommen zu werden. Aber dann könnte er ja einen mit Verwaltungsaufwand begründeten Aufschlag für Barzahlung ansetzen, was er nicht tut. Er bügelt ab und setzt Bundesrecht außer Kraft. Das dies kein Einzelfall ist, möchte ich abschließend an einem ganz anderen Beispiel zeigen, bei dem es in der Regel noch um weit mehr geht als monatlich 17,50 Euro.
Der Finanzminister will nicht
Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Staat durch ein unbegründetes „Basta“ eine Diskussion zu beenden pflegt – und zwar schon seit vielen Jahren – sind die sogenannten „Nichtanwendungserlasse“ des jeweiligen Bundesfinanzministers. Wenn sie mal sehen wollen, wie ihrem Steuerberater oder Steueranwalt die Zornesröte ins Gesicht steigt, nennen Sie einfach dieses Schlagwort und beobachten die Reaktion. Worum es dabei geht? Ich konstruiere mal folgenden fiktiven Fall, um die Praxis deutlich zu machen:
Stellen Sie sich vor, sie sind Bäcker und kaufen seit Jahren ihr Mehl bei einer Mühle ein, die Ihnen dafür 19% Umsatzsteuer in Rechnung stellt. Ihr Steuerberater findet heraus, dass es im Dschungel der Umsatzsteuergesetze einen Punkt gibt, demzufolge das Mehl nur mit 7% versteuert werden müsste und auf ihre Bäckerei träfe dieser Fall zu. Sie und der Müller setzten sich zusammen und vermuten nun, dass die Steuerregelung hier fehlerhaft ist, was Ihnen und dem Müller eine gewaltige Rückzahlung zu viel gezahlter Umsatzsteuer einbrächte, sollte dies gerichtlich festgestellt werden. Sie klagen also vor dem Finanzgericht, verlieren dort jedoch. Die Finanzgerichtsbarkeit ist in Deutschland denkbar flach und bereits die nächste Instanz, der Bundesfinanzhof, ist die höchste. Sie legen also Berufung ein und der BFH gibt Ihnen in der Berufungsverhandung tatsächlich Recht!
Sowas passiert immer wieder. Ein Sieg auf ganzer Linie, sie bekommen Geld zurück! Das feiern Sie dann mit einem großen Artikel in der „Bäckerblume“, weil alle Bäcker und alle Mühlen die frohe Botschaft hören sollen. Doch leider leider…der Finanzminister hat das BFH-Urteil mit einem „Nichtanwendungserlass“ versehen. Das bedeutet, dass es nur für Ihren Einzelfall gilt, selbst wenn es eine unzulässige Rechtspraxis anprangert und die Gesetzgebung geändert werden müsste. Jeder Bäcker, der die „Bäckerblume“ liest und nun ebenfalls erkennt, dass er zu viel Steuern zahlt, muss denselben Klageweg wie Sie gehen, um sein gutes Recht zu erlangen, obwohl dieses Recht bereits existiert. Der Finanzminister ist aber der Meinung, das die zu viel gezahlten Steuern bei ihm besser aufgehoben sind, als bei ihren Bäckerkollegen in der Backstube.
Ich habe lange überlegt, ob mir ein besseres Wort als „Willkür“ zu dieser Praxis einfällt – leider nein. Auf bfh-urteile.de heißt es generell zum Thema Nichtanwendungserlass:
„Es gibt BFH-Urteile, die mit einem sogenannten Nichtanwendungserlass belegt werden, d.h. die Finanzverwaltung darf das BFH-Urteil nicht über den Einzelfall hinaus anwenden. Nichtanwendungserlasse werden im als BMF-Schreiben im Bundessteuerblatt I (BStBl I) veröffentlicht. Nichtanwendungserlasse sind verfassungsrechtlich nicht unproblematisch. Der Fiskus beseitigt eine nicht genehme Steuerrechtsprechung durch eine Gesetzesänderung. Den Steuerpflichtigen bleibt – solange die Gesetzesänderung nicht greift – nur die Klage bzw. Revision, um ihr gutes Recht zu erhalten.“
Finanzminister Schäuble, unsere ehemalige „schwarze Null“, hielt es nicht für nötig, diese Praxis zu beenden. Mal schauen, was unser neuer Finanzminister Scholz zu dieser Frage zu sagen hat, meine Mail sollte ihn erreicht haben. Der Staat hat gut gewirtschaftet, kalauerte die heutige Landwirtschaftsministerin Klöckner noch im letzten Jahr. Nun, betrachtet man die aktuelle Rechtspraxis in Bezug auf Grundrechte und Steuergerechtigkeit, wird leider schnell klar, auf wessen Kosten.
Eine Verfassung ist außerhalb der Demokratie vermintes Gelände
Als Vera Lengsfeld 1988 einen Artikel der DDR-Verfassung auf ein Plakat schrieb und sogar die Quelle des Textes nannte, ging sie davon aus, dass man sie dafür sicher nicht verhaften würde. Die Textstelle aus Artikel 27 lautete „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“ Verhaftet hat man sie dennoch. Als Begründung diente jedoch nicht der Inhalt ihres Plakates, sondern der „Zusammenrottungsparagraph“. Sicher, Vera Lengsfeld sei allein verhaftet worden, meinte die Stasi – aber sie hätte an Zusammenrottung „gedacht“! Das genügte bereits.
So wie in der DDR Vermutungen über die Gedanken der Menschen in handfeste geheimdienstliche Maßnahmen und Freiheitsberaubungen mündeten, stellen unsere Gerichte heute Vermutungen über die Gedanken der Väter und Mütter unseres Grundgesetzes an und begründen mit diesen Schlussfolgerungen ihre Urteile. Alles in mir sträubt sich dagegen, die DDR-Justiz mit der der Bundesrepublik zu vergleichen und im Großen und Ganzen verbietet sich dieser Vergleich auch. Noch! Und dennoch kommt es in letzter Zeit immer häufiger zu Entscheidungen der Gerichte, deren Rechtsauffassung eher der Position des Staates zuneigt, ganz gleich wie schwach diese sind, als die Bürger wirksam vor dem Zugriff dieses Staates zu schützen. Ich sage nur noch „NetzDG“. Die Rolle des wohlwollenden Beschützers, in der sich alle staatlichen Institutionen gern sehen, füllen sie nämlich denkbar schlecht aus. Das Versagen ist mit Händen zu greifen und allgemein bekannt.
Die offensichtlichen Rechtsbrüche im Zuge der Völkerwanderung 2015/16, nicht nur gegen Landesrecht, sondern auch gegen EU-Vereinbarungen seien hier nur erwähnt. Ebenso die trickreich eingeführte Haftung innerhalb des Euroraumes, was die Euro-Verträge eigentlich prinzipiell ausschließen. Zur Vertuschung bekommen diese Maßnahmen dann Bezeichnungen wie „Fazilität“, „Instrument“ oder „Hebel“, weil man die Begriffe „Kredit“ und „Haftung“ lieber meidet. Ebenso folgenlos bleiben die sukzessive Verschrottung der Bundeswehr, wofür die oberste Verschrotterin, Ministerin von der Leyen, auch noch mit einer weiteren Amtszeit belohnt wurde. Die Rufe des Grundgesetzes, sich doch bitte innerhalb der von ihm gesteckten Grenzen zu bewegen, schenkt die Politik kaum noch Beachtung. So wird die Aufforderung des Verfassungsgerichtes, das Wahlverfahren zur Bundestagswahl zu reformieren, seit Jahren ignoriert. Ergebnis ist ein Bundestag, dessen Größe von Legislatur zu Legislatur weiter anschwillt – das genaue Gegenteil war die Aufgabe, die das Verfassungsgericht stellte. Vergeblich, wie sich bislang erwies.
Dem Bürger wird durch diese sich einschleichende Rechtspraxis ausgerechnet der Teil der Gesetze aus der Hand geschlagen, den er verstehen kann: Das Grundgesetz. Denn die Diskussion und jedes „warum“ kann der „übergeordnete“ Staat jederzeit durch ein gerichtliches „Basta“ beenden. Einfach weil er es kann. Oder um es mit den Worten Carlos A. Gebauers zu sagen: „Das klingt ja fast so, als würden wir uns Regeln geben und wenn uns diese Regeln dann nicht gefallen, diese für unbeachtlich erklären. Das sind ja Zustände wie in der EU.“ — Ich bin gespannt, wie die nächste Instanz, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, in der causa „Bargeld“ entscheidet und welche Antwort unser neuer Finanzminister auf meine Frage zur Praxis der Nichtanwendungserlasse geben wird.
* Hier berichtet Carlos A. Gebauer selbst über den Prozessverlauf und ordnet die Urteile anlässlich des Roland-Baader-Treffens 2018 ein.
UPDATE
Mittwoch, 4.4.2018, 13 Uhr: Soeben erreicht mich die Antwort aus dem Finanzministerium auf meine Frage, ob sich an der Rechtspraxis der Nichtanwendungserlasse etwas ändern werde. Ich zitiere den Wortlaut:
Lieber Herr Letsch,
die aufschlussreichen Wahrheiten über den „Nichtanwendungserlass“ dürften allzuwenigen Steuerbürge(r)n hierzulande auch nur ansatzweise bekannt sein. Wirkliche Zornesröte ins Gesicht wird diese Gerechtigkeitspraxis allerdings vermutlich noch weniger „Steuerberatern“ bescheren.
Bitte unbedingt beachten: Die besagten steuerfachmitwirkenden Berater beraten zwar – manchmal raten sie allerdings nur selber im (absichtlich verkomplizierten) Steuerrecht herum.
Zuallererst sind sie aber der F-Behörde höchstselbst verpflichtet. Nicht etwa dem Endkunden, der alles, aber auch wirklich alles bezahlen muss. Selbst wenn es gegen den Willen einer vermeintlichen Mehrheit bestellt und geliefert wird.
Falls die im Artikel erwähnte Anfrage an den neuen Finanzkanzler Scholz-SPD eine Antwort nach sich ziehen sollte – die wird (vermutlich) äusserst allgemeingehalten nichtssagend unbefriedigend ausfallen. Ein Praktikant im Vorzimmer reicht dazu aus und lässt grüssen.
Der frühere Bundes-Finanzier im Amt, Genetik-Experte CDU-Schäuble, hatte übrigens weniger „Nichtanwendungserlasse“ auf dem Kerbholz als sein Vorgänger Problem-Peer Steinbrück-SPD.
Können Sie recherchieren…und welche anderen SPD-Traditionen uns alle noch überleben, vielleicht auch.
Zum hier angesprochenen Thema „Über-Unterordnungsverhältnisse“ mittels Gesetzgebung ist mir gleich ein Satz in Erinnerung gekommen, den ich vor vielen Jahren in einem Fachbuch über „Verwaltungsrecht“ gelesen hatte. Der lautete folgendermassen bzw. in etwa:
„Die Behörde ist dem einzelnen Bürger in Rechtsfragen übergeordnet“
Noch Genaueres muss man nicht mehr ermitteln zu meiner-Deiner-Unserer Unterordnung-Unterwerfung.
Das genannte Buch habe ich schon lange weggeworfen und wer an den Satz glaubt…“vor dem Gesetz sind alle gleich“ – der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.
Lieber Herr Letsch. Vielen Dank für diesen Artikel. Sie schreiben immer Dinge, die mich an irgendetwas erinnern.
Ich kenne etwas, das dem Nichtanwendungs-Erlaß sehr nahe kommt. Der Staat nennt das „Rückwirkende Heilung“. Das ist in etwa so wie wenn ein Dieb und sein Diebesgut festgestellt wird, der Dieb daraufhin das Diebesgut zurückstellt und sagt, daß doch gar nichts passiert sei.
Ich habe einmal gegen die Stadt Apolda geklagt, die über viele Jahre (mehr als 3) rückwirkend die Straßenreinigungsgebühr auf knapp das Dreifache erhöht und sich selbst eine fette Nachzahlung eingeschenkt hat. Grund: neue Berechnungsweise.
In der ersten Instanz habe ich Recht bekommen Grund: Rückwirkungsverbot. Nun hat die Stadt – Simsalabim – einfach die „mangelhafte“ alte Berechnungsweise „rückwirkend geheilt“ und ist in die nächste Instanz gegangen – und – hat natürlich – gewonnen! Klar! Die Spielregeln sind ja nun rückwirkend andere!
Wahnsinn! Willkür pur!
Der einfache Bürger kann natürlich nichts rückwirkend heilen. Der Staat aber nimmt sich das raus, getreu dem Motto „Quod licet Iovi, non licet bovi“!
Ja, wenn man erst mal damit beginnt, Exempel zusammenzutragen, ist der Tag echt gelaufen!
Wie soll man auch Respekt vor dem Grundgesetz von Gerichten erwarten, wenn Legislative und Exekutive mit dem gegenteiligen schlechten Beispiel vorangehen. Herausragendes Beispiel: das „Ehe für alle – Gesetz.“ Denn man kann, das Selbstverständliche klarstellend, einerseits sehr wohl der Auffassung sein, daß aufgrund gewandelter gesellschaftlicher Anschauungen auch eine Eheschließung zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts erlaubt sein solle. Andererseits setzt freilich das Grundgesetz – und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat das wiederholt bestätigt – die auf Dauer angelegte Verbindung zwischen einm Mann und einer Frau voraus, wenn es von „Ehe“ spricht. Was tun? Man müßte das Grundgesetz ändern. Braucht aber eine 2/3 – Mehrheit im Bundestag. Jedenfalls im Augenblick nicht zusammenzubringen. Was wird stattdessen verabschiedet ( und, wie nicht vergessen werden sollte, durch den Bundespräsidenten hurtig ausgefertigt) ? Ein einfaches Bundesgesetz, das den Makel des Verfassungsbruchs a limine auf der Stirn trägt und eigentlich für alle Parlamentarier, die dem Gesetz in namentlicher Abstimmung zugestimmt haben, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz nach sich ziehen müßte. Soviel zu geschriebener und gelebter Verfassung in unserem Land.
Es will mir scheinen, dass das Recht aus blossen Bequemlichkeitsgründen ausgehebelt wird.
Der Wählerwille wird ignoriert. Der erfolgreiche Einzug einer Partei, die sich für die Durchsetzung der geltenden Rechte einsetzt, wird ignoriert. „Vogel, friss oder stirb!“, und „Nach mir die Sintflut!“, scheinen die Mantras der im Staatswesen beschäftigten zu sein.
Ich bin der Meinung, dass sich ein etabliertes System nur noch durch katastrophale Ereignisse verändern lässt (Krieg, Hunger, Aufstände, Finanzkrisen). Vor einer Änderung muss es also erst einen Zusammenbruch geben. Darüber hinaus lässt es sich leider nicht immer mit Sicherheit vorhersagen, ob das, was dem Kollaps nachfolgt, wirklich erstrebenswert ist.
Den Selbstbehauptungswillen der allgemeinen deutschen Bevölkerung durfte man ja im September 2017 bewundern, mit 87-prozentiger „Ich find’s gut!“ Zustimmung zur desolaten Lage. Von dort ist wohl zur Zeit kein Wille zur Veränderung zu erwarten.
Den finalen Trigger könnte der drohende Kollaps des Bankwesens darstellen:
https://www.nzz.ch/finanzen/interview-mit-markus-krall-der-draghi-crash-ist-nur-eine-frage-der-zeit-ld.1308458
Er gibt dem europäischen Bankensektor noch etwa zwei Jahre. Wenn er Recht hat, dann aber „Gute Nacht, Europa!“
Für den einzelnen Bürger bleibt meines Erachtens nach nur noch, sich auf das „Abwettern“ vorzubereiten, oder die Eurozone zu verlassen. Die Konsequenzen dieser jahrelangen Politik (Euro- und EU-Irrsinn, Energiewende, illegale Migration von „Schatzsuchenden“, und Wohlstandsverblödung) werden mittel- und langfristig JEDEN treffen.
„Ich habe lange überlegt, ob mir ein besseres Wort als „Willkür“ zu dieser Praxis einfällt – leider nein.“
Ich glaube, das Wort „Unrecht“ ist die gebräuchliche Definition des von Dir geschilderten Sachverhalts, bei dem Recht auf dem Rechtsweg an seiner Geltung gehindert wird. Voltaire hats ja schon gesagt. „Recht“ umfasst nicht nur, was in Büchern steht, sondern auch die praktische Umsetzung.
Es freut mich aber, zur Abwechselung mal etwas über die Probleme, die Legalismus, bzw. Rechts-Sophistik mit sich bringen, zu lesen. Ich finde jedoch, dass es auch durchaus Sinn machen kann, mal darüber nachzudenken, was die Intention derjenigen war, die das Grundgesetz geschrieben haben, als sie die Grundrechte formulierten. Normalerweise nehmen diese Menschen ein übergeordnetes Recht an, dem ihre Verfassung zu entsprechen hat, und das zu deren Durchsetzung berechtigt. Die Grundrechte können daher durchaus als unverletzlich und naturgegeben, und vom Gesetzgeber nur vorgefunden, angesehen werden. So in etwa sagts zumindest die Rechtsphilosophie.
Die Frage, warum Recht eigentlich gilt, könnte auch mal gestellt werden, wenn man über die Überschreitung von Grundrechten spricht. Immerhin stellen Grundrechte eine Beschränkung staatlichen Handelns dar, deren Überschreitung ab einem gewissen Punkt die Legitimität eines gesamten Staatswesens beenden kann. Die Rechtsphilosophie ist darin sehr eindeutig. Ab diesem Punkt hat man es nur noch mit einer großen und schwer bewaffneten Verbrecherbande zu tun, deren Regelungen keine Gesetzeskraft mehr haben. Wenn man über die Überschreitung von Grundrechten spricht, spricht man immer über Unrecht, und sollte die Grenze zwischen einem Versehen und einem Verbrechen vor Augen haben. Die Ansicht, dass der König/Führer/Staat kein Unrecht tun kann, auch bekannt als Rechtspositivismus, gilt seit den NS-Kriegsverbrechertribunalen als widerlegt. Andernfalls wäre am dritten Reich aus rechtlicher Sicht nichts zu bemängeln.
„Eine Verfassung ist außerhalb der Demokratie vermintes Gelände“
„Demokratie“ ist ein furchtbar schwammiger Mode-Begriff, den man meiden sollte. Klassischerweise ist eine Demokratie eine Staatsform, bei der 51% der Wähler darüber bestimmen, was mit den restlichen 49% geschieht. Eine richtige Demokratie wäre ziemlich bald tyrannisch, und kein klar denkender Mensch will so etwas haben. Das, was heute in Deutschland ist, ist eine konstitutionelle Republik. „Demokratie“ ist nur so ein Propaganda-Modebegriff, der für die Untertanen freundlicher und einladender klingt. Bei einer Republik scheinen die Leute zu kapieren, wo das Wort „Gewalt“ in den Worten „Gewaltmonopol“ oder „Gewaltenteilung“ her kommt, während an einer Demokratie alles total toll ist, und alle gemeinsam an etwas tollem teilhaben. Und man will sich natürlich auch klar von den bösen diktatorischen Republiken abgrenzen, die, anhand objektiver Kriterien, häufig ebenfalls als konstitutionelle Republiken einzustufen sind.
Demokratische Elemente machen einen Staat nicht zwingend besser. Ein Diktator, der die Grundrechte seiner Verfassung entgegen Volkes Willen achtet, ist besser, als eine „Demokratie“, in der das Volk dies nicht tut. Und dann gibts noch die Public Choice Theory, die ziemlich schlüssig beweist, dass Deine Definition von „Demokratie“ ein Scheißsystem ist. Das, was man am Markt als „Marktversagen“ bezeichnen würde, also eine selten eintretende Katastrophe, ist in der Politik der Normalzustand.
[[ Demokratische Elemente machen einen Staat nicht zwingend besser. Ein Diktator, der die Grundrechte seiner Verfassung entgegen Volkes Willen achtet, ist besser, als eine “Demokratie”, in der das Volk dies nicht tut. ]]
‚Tschuldigung, aber diese absolutistischen Aussagen kann ich so nicht unkommentiert stehen lassen.
Es exisitieren immerhin mehrere „Geschmacksrichtungen“ der Demokratie weltweit heutzutage: Deutschland ist nicht England ist nicht Singapur ist nicht Amerika ist nicht die Schweiz. Die Unterschiede dieser Demokratien alle als „demokratische Elemente, die den Staat nicht besser machen“ abzuqualifizeren, halte ich für eine grobe Vereinfachung.
Was wäre Ihnen denn lieber? Ein gütiger König, unter dem das Land für – sagen wir einmal – 30 Jahre blüht, und dessen blutrünstiger Nachfolger auf die Verfassung einen Piep gibt, und das Land und die Leute in die nächste Katastrophe führt? Na, DAS Modell gab es doch schon seit Jahrtausenden.
Demokratien sind mit Sicherheit nicht perfekt (wobei ich die Schweizer Demokratie als die einzig „echte“ betrachte), aber auf absolutistischen Terror – weder von Rechts noch von Links – habe ich noch weniger Lust.
„‘Tschuldigung, aber diese absolutistischen Aussagen kann ich so nicht unkommentiert stehen lassen.“
Okay. Ich würde gerne einwenden, dass Absolutismus besagt, dass ein Herrscher die uneingeschränkte Bestimmungsgewalt hat, und folglich nichts Falsches tun KANN, und ich explizit gesagt habe, dass diese Rechtsauffassung spätestens seit den NS-Tribunalen widerlegt ist, aber fahre bitte fort.
„Es exisitieren immerhin mehrere “Geschmacksrichtungen” der Demokratie weltweit heutzutage: Deutschland ist nicht England ist nicht Singapur ist nicht Amerika ist nicht die Schweiz.“
Es existierten in der Vergangenheit weltweit noch viel mehr „Geschmacksrichtungen“ der Demokratie. Athen, Sparta und Rom waren Demokratien. Wenn Du alles, wobei Gesetzgebungskompetenz und Wahlen miteinander zusammen gehören, in eine Kategorie steckst, waren sogar die meisten Piratenschiffe, die in den Amerikas ihr Unwesen trieben, Demokratien. Deren Kapitäne hatten ebenfalls gesetzgeberische Kompetenz auf hoher See, und wurden, ebenso wie die Offiziere, von der Schiffsbesatzung gewählt. Die Weimarer Republik war eine Demokratie, und wenn bei Demokratien, wie das Wort nahe legt, das Ergebnis von Wahlen der ausschlaggebende Faktor ist, dann war Adolf Hitler ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt, das lediglich seinen Job gemacht hat. Platon schrieb ebenfalls einiges über Demokratien, und meinte damit etwas völlig anderes, als das, was Du meinst. Der Begriff „Demokratie“ ist absolut schwammig, und sollte deshalb nicht verwendet werden. Wenn man Deine Definition von „Demokratie“ mal in den Kontext des Sprachgebrauchs der letzten 2500 Jahre einreiht, dann passt Deine Definition nicht. Was hingegen passt, ist „Konstitutionelle Republik mit demokratischen Elementen“. „Demokratie“ ist ein Modewort, das möglichst inklusiv klingen soll, das die Realität verschleiert, und das von einer Institution benutzt wird, die der größte Propagandist aller Zeiten ist.
Könnte es sein, dass die Propaganda bei Dir gewirkt hat, und Du unseren „freiheitlichen, demokratischen Staat mit seiner total tollen Werteordnung“ als Identifikationsobjekt betrachtest, und nicht nur als ein mechanisches Ding, das eine Funktion erfüllen soll? Irgendwie als etwas Übernatürliches, bei dem allgemeingültige Regeln nicht greifen? Etwas, das über der Realität steht, oder diese gar formt? Dann hat Dein Staatsverständnis religiöse Züge, und Du bist nicht weit von denjenigen entfernt, die an die Gotthaftigkeit der Caesaren glaubten.
„Unterschiede dieser Demokratien alle als “demokratische Elemente, die den Staat nicht besser machen” abzuqualifizeren, halte ich für eine grobe Vereinfachung.“
Kleiner Trost, sobald jemand über eine „Demokratie redet, halte ich das auch für eine grobe Vereinfachung.
In den von Dir genannten Staaten sollte die Verfassung über den Institutionen, und die Institutionen in der Hierarchie über Volkes Wille stehen. Um Volkes Wille einzuhegen, gibt es die Institutionen, die mit ihrem Gewaltmonopol zum Beispiel Lynchjustiz verhindern. Und über den Institutionen steht die Verfassung, die die Institutionen einhegen sollen, sollten die Institutionen zum Beispiel auf die Idee kommen, dass ein Genozid eine gute Idee wäre. Und über der Verfassung steht so etwas wie das „Naturrecht“, das die Verfassung für nichtig erklärt, sollte sie irgendeine Form der Tyrannei implementieren, anstatt einfach nur den „Gesellschaftsvertrag“ umzusetzen, und sonst nichts. Alles, was darüber hinaus geht, ist Absolutismus.
Also ja, in den von Dir genannten Staaten sind die demokratischen Elemente die niederrangigsten Elemente, wenns um die Entscheidungsfindung geht. Diese als „Demokratie“ zu bezeichnen, wäre so, wie wenn ich mein Fahrrad als „Gepäckträger“ bezeichne. Und wenn man sich anschaut, wie viel Einfluss Volkes Wille bei wichtigen und verfassungskonformen Themen wie der Migration oder dem Brexit hat, wäre mein Fahrrad ein Mountainbike ohne Gepäckträger. Was es übrigens tatsächlich ist.
Falls Du wissen willst, weshalb das so ist: Stell Dir mal vor, das Volk wäre der festen Überzeugung, es müsse, aus religiösen oder traditionellen Gründen, alle Juden töten oder versklaven, um diese für die Verbrechen des Judentums/Finanzkapitalismus/Sonstiges zu strafen. Es gibt und gab genug Menschengruppen mit einer solchen Einstellungen, um es in Erwägung zu ziehen, dass diese in einem Staatsvolk die Mehrheit der Wähler bilden können. Die Toleranz, die man im Westen gegen Außenseiter hegt, ist weltweit und geschichtlich eine absolute Ausnahme. Starke Diskriminierung auf allen Ebenen gegen Außenseiter ist der Normalzustand, und, wenn Du mich fragst, genetisch festgelegt. Es ist spieltheoretisch einfach die bessere Strategie, und Evolution interessiert sich mehr für Spieltheorie als für realitätsferne Moralduselei.
„Was wäre Ihnen denn lieber? Ein gütiger König, unter dem das Land für – sagen wir einmal – 30 Jahre blüht, und dessen blutrünstiger Nachfolger auf die Verfassung einen Piep gibt, und das Land und die Leute in die nächste Katastrophe führt?“
Bei dem zuletzt genannten Volk würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, den König vorziehen, und jede Opposition bekämpfen. Notfalls eigenhändig und mit Gewalt. Kollateralschäden wären mir ebenfalls egal. Ich würde sogar einen Bürgerkrieg mit knallharter Unterdrückung der Zivilbevölkerung jeder Erweiterung demokratischer Elemente vorziehen. Gerne auch eigenhändig und mit Gewalt.
Da Du aber über einen gütigen König sprachst, und nichts Gütiges mit Völkern wie dem eben beschriebenen machbar ist, nehme ich mal an, dass auch das Volk okay ist. In diesem Fall würde ich voraussetzen, dass der Monarch die Verfassung respektiert, und die Verfassung die Handlungsmöglichkeiten und Ziele des Staatswesens beschränkt hat, und es vorsieht, dass dessen Existenz beendet wird, sollte er diesen Bereich verlassen. Ein gütiger König würde also dafür sorgen, dass die Verfassung das Recht von Teilen des Staatsgebiets auf Sezession vorsieht, und es ein Grundrecht jeden Bürgers ist, Waffen zu tragen, und sich im Kriegshandwerk zu üben. Sollte der nachfolgende König den Staat dann von der Freiheit in die Tyrannei führen, stünde er bald ohne Staatsgebiet dar, und hätte, sollte er Gewalt geltend machen, einen Bürgerkrieg, den er verliert. Staaten, die diese Rechte nicht vorsehen, behalten sich selbst das Recht vor, bei Bedarf tyrannisch zu werden, und können daher gar nicht als wohlwollend oder gütig betrachtet werden.
Bevor Du nun damit kommst, dass reguläres Militär irreguläre Milizen besiegen würde, erklär mir, warum die Amis, trotz technologischer und finanzieller Überlegenheit, seit dem Vietnamkrieg jede asymmetrische Auseinandersetzung verloren haben. Reguläre Armeen sind gut darin, andere reguläre Armeen zu bekämpfen. Es gibt für reguläre Armeen jedoch keinen Weg, bei bewaffnetem Widerstand einer bewaffneten Bevölkerung zu gewinnen, wenn man vom Genozid einmal absieht. Und Genozid oder Demozid klappt bedeutend besser, wenn die Opfer sich nicht wehren können. Du solltest Genozid und Demozid als realistische Option einplanen. In den 10000 Jahren der Weltgeschichte ist beides erst seit 50 Jahren zumindest offiziell vom Tisch, weil eine kleine, wohltäterische Elite einiger kleiner Länder das so bestimmt hat. Weder hat diese Elite es jedoch verhindern können, dass in der Zeit ihrer Herrschaft kein Genozid verübt wird, noch gibt es einen Grund anzunehmen, dass diese Länder in weiteren 50 Jahren noch eine Rolle spielen werden. Die meisten davon sind schon jetzt am bröckeln. Die meisten Menschen auf dem Planeten Erde würden Dir ziemlich klar sagen können, unter welchen Umständen sie einen Genozid für unterstützenswert halten würden, und meistens sind das kleinere Probleme, als wir in unserem Alltag erleben. Du solltest den Tag fürchten, an dem diese Menschen ihr „demokratisches Recht auf Selbstbestimmung“ wahrnehmen können.
„Demokratien sind mit Sicherheit nicht perfekt (wobei ich die Schweizer Demokratie als die einzig “echte” betrachte), aber auf absolutistischen Terror – weder von Rechts noch von Links – habe ich noch weniger Lust.“
Auch die Schweiz ist keine Demokratie, sondern eine konstitutionelle Republik mit (direkt-)demokratischen Elementen. Informier Dich mal etwas über die Public Choice Theory. Es gibt gute Youtube-Videos darüber. Da wird Dir erklärt, warum „Demokratie“ für den Arsch ist, und Staaten umso besser sind, je weniger Macht und Einfluss sie haben. Das ist kein ideologischer Wirrwarr, sondern etwas, das man nachrechnen kann.
BTW, wenn Du Dich mal ein wenig mit Public Choice Theory beschäftigst, dann wirst Du verstehen, warum Deine Definition von Demokratie auf lange Sicht immer scheitern wird. Genau wie Kommunismus, nur langsamer. Beides sind Systeme, die die Realität nicht ausreichend berücksichtigen. Deine Demokratien führen dazu, dass die Probleme, die der Staat beseitigen soll, zwangsläufig größer werden, und sie neigen dazu, Schieflagen zu produzieren, in denen rationales Verhalten aller Individuen für die Allgemeinheit schädlich ist. Letzteres ist „Marktversagen“, und der Normalzustand in der Politik, der eine Tendenz dazu hat, immer weiter anzuwachsen. Wie gesagt, man kann das nachrechnen, und es ist keine bloße Kopfgeburt, sondern es sagt voraus, was gerade in den westlichen „Demokratien“ passiert.
[[ Auch die Schweiz ist keine Demokratie, sondern eine konstitutionelle Republik mit (direkt-)demokratischen Elementen. ]]
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten diesen Satz an den Anfang Ihres Konvolutes gestellt. Dann hätte ich mir nämlich den Rest ersparen können.
Genau so, wie Ihre seltsame Liste weiterer Strohmann-Argumente.
Bitte geben Sie nicht vor, eine Diskussion führen zu wollen, wenn es Ihnen ausschliesslich darum geht, Ihre Was-auch-immer-Ideologie zu verbreiten („Public Whocares Theory“, die ich persönlich nach diesem Austausch jedenfalls garantiert NICHT lesen werde).
@roger:
Ich hab den nachfolgenden Text schonmal gepostet, jedoch behandelte Deine Software ihn als neuen Thread, und nicht als Reply. Falls Du das andere Post löschen kannst, wär die Kommentarsektion aufgeräumter.
Und nun zu Dir, lieber Holger:
“Bitte geben Sie nicht vor, eine Diskussion führen zu wollen, wenn es Ihnen ausschliesslich darum geht, Selbstgespräche zu führen. ”
Sorry, aber das ist kein Argument. Wenn Du nicht argumentieren kannst, dann steh dazu. Ist keine Schande. Man muss nicht alles können. Erspar Dir aber bitte die Unterstellungen, die davon ablenken sollen. Etwas Bescheidenheit wäre von Vorteil.
“Genau so, wie Ihre seltsame Liste weiterer Strohmann-Argumente.”
Strohmann-Argumente sind fingierte Argumente, die man dem Gegner unterstellt, und die sich bequem widerlegen lassen. Das bedeutet schonmal, dass ich erfolgreich etwas widerlegt habe. Schön. Doch wo habe ich etwas fingiert oder jemandem untergeschoben? Ich habe Dir lediglich erklärt, was hinter dem Tellerrand liegt. Dass man manche Dinge nicht im Twitter-Format ausdrücken kann, sollte klar sein. Was ich geschrieben hab, ist im Prinzip eine stark verkürzte Zusammenfassung von Lockes zweiter Abhandlung gewesen, die das Fundament von dem beschreibt, was Du als “Demokratie” bezeichnest. Sowas nimmt nunmal Platz in Anspruch.
Btw, dass Du Dich nicht mal in die Public Choice Theorie einarbeiten willst, ist Dein Verlust. Du bist es, dessen Irrtum nicht korrigiert werden wird.
[[ Was ich geschrieben hab, ist im Prinzip eine stark verkürzte Zusammenfassung von Lockes zweiter Abhandlung gewesen ]]
Verzeihung, aber auf „Copy’n’Paste-Nachplappern“ kann ich getrost verzichten.
Nur weil Sie gegenwärtig irgendein Buch spannend finden, und eine Relevanz zum vorliegenden Artikel vermuten, lasse ich mir nicht von Ihnen diktieren, in welche Richtung ich argumentiere.
ICH bin hier, um mich an Rogers Texten zu erfreuen, und meine Gedanken diesbezüglich zu teilen.
Wenn SIE hier ein – wie auch immer geartetes – theoretisches Seminar veranstalten wollen, dann nur zu, und viel Vergnügen dabei. Aber eben ohne meine Beteiligung.
Und hierbei werde ich es hiermit auch belassen.
„Verzeihung, aber auf “Copy’n’Paste-Nachplappern” kann ich getrost verzichten. “
Wenn ich jedes Mal nen Euro bekäme, wenn mir jemand unterstellt, ich hätte etwas kopiert, was ich selbst verfasst habe, wäre ich reich. Dabei könnte man das so einfach nachprüfen, indem man einfach einen Ausschnitt des vermeindlichen Plagiats bei Google sucht. Manche Menschen können halt Inhalte verfassen, und andere nicht. Wenn jemand dies nicht kann, ist auch das kein Grund zur Schande, aber man sollte dazu stehen, und nicht von der eigenen Schwäche mit Unterstellungen ablenken. Schande wirds erst, wenn man herumhampelt, um nicht eingestehen zu müssen, dass man keine Ahnung hat. Wie bereits gesagt, Bescheidenheit ist Trumpf.
„Nur weil Sie gegenwärtig irgendein Buch spannend finden, und eine Relevanz zum vorliegenden Artikel vermuten, lasse ich mir nicht von Ihnen diktieren, in welche Richtung ich argumentiere.“
Lol. Was Du gerade getan hast, ist vergleichbar damit, was ein selbst erklärter Kommunist getan hätte, wenn jemand ihm einen strittigen Sachverhalt erklärt, wie er in Marx „Das Kapital“ erklärt wird, und der Kommunist darauf entgegnet, dass ihn irgendwelche Bücher nicht interessieren, und er von seinem Gegenüber erwartet, dass er Schwächen im Argument des Kommunisten ignoriert. Ganz schön peinlich. Wie nannte Lenin solche Menschen nochmal?
[[ Wie nannte Lenin solche Menschen nochmal? ]]
Er hätte wohl eher mit einem der recht drolligen „Alle Kinder“-Scherz geantwortet, die in meiner Jugendzeit sehr beliebt waren:
„Alle Kinder gehen über die Strasse… – ausser Rolf, der klebt am Golf.“
Zusatzkommentar:
Bitte geben Sie nicht vor, eine Diskussion führen zu wollen, wenn es Ihnen ausschliesslich darum geht, Selbstgespräche zu führen. Die Länge Ihrer Beiträge legt diesen Schluss nahe.
Wieder einmal hervorragend.
Irgendwie ahnte man es bereits, aber hier wird mehr als klar: Wir haben fast nichts zu sagen.
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