Nur ein Kommentar, mehr möchte ich mir angesichts der Wahlergebnisse noch nicht aus der Feder drücken. Zunächst zum Organisatorischen, denn die zahlreichen Pannen sollte man nicht mehr mit einem Schulterzucken abtun, auch wenn die meisten davon wie erwartet an der Sollbruchstelle der Demokratie, also in Berlin auftraten. Fehlende Stimmzettel, falsche Stimmzettel, lange Schlangen, abgewiesene Wähler…die Pannenserie ist lang. Dabei gab es wenig neues im bewährten Wahlverfahren. Den analogen Zettelkrieg hatten die Deutschen bisher stets ohne größere Störungen über die Bühne gebracht. Doch diesmal gab es vielerorts schon mit der Zustellung der Wahlbenachrichtigungen Probleme. In meinem Ort bekam fast die Hälfte der Einwohner gar keine. Nun ist das vielleicht nur eine Petitesse und niemand vermutet hier eine finstere Absicht. Auch genügte es, zur Identifikation den Personalausweis zur Wahl mitzubringen, den man ja ohnehin (aber auch nicht überall) zur Wahl brauchte.
Dit is Bahlin
Diese organisatorische Panne ist aber doch Symptom einer gewissen Schlamperei, einer Erschlaffung der Aufmerksamkeit. Wäre die Demokratie ein Haus, würde man vielleicht sagen, die Wände stehen noch, aber der Putz bröckelt und niemanden interessiert es. Das Los der Allmende in einer gelangweilten Demokratie, die vieles für selbstverständlich hält. In Berlin bröckelt nicht nur der Putz, da geht es längst an die tragende Struktur. Rot-Grün-Rot hat sich dort als unabwählbar wie Fidel Castro erwiesen, ganz gleich, wie kaputt und dysfunktional die Stadt regiert wird. Doch vielleicht verdankt die Republik dem schlechten Beispiel seiner Hauptstadt, deren Politiker die eigene Unfähigkeit in alle Schaufenster stellen und als Erfolge verkaufen, dass Deutschland als Ganzes zumindest dieses Gesellschaftsexperiment erspart bleibt.
Franziska „Für Berlin reicht’s“ Giffey kann also genau da weitermachen, wo ihr Parteigenosse Müller aufgehört hat: Schulden machen mit fragwürdigen und anti-marktwirtschaftlichen Experimenten, deren größtes die Berliner gestern ebenfalls auf dem Wahlzettel hatten und brav abnickten. Hätte wir noch so etwas wie ein zuverlässiges Verfassungsgericht, wäre mir nicht bange, dass die geplanten Enteignungen großer Vermietunternehmen untersagt würde, weil die Begründung „uns ist die Miete zu teuer“ doch arg dürftig ist. Der von den Befürwortern gern angeführte Hinweis, Enteignungen seien das Normalste der Welt und sogar im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen, unterschlägt, dass es in solchen Fällen stets um die Regelung von Nutzungskonflikten ging. Also wenn etwa ein Haus einer Autobahn im Weg steht oder ein Bauer sein Land nicht dem Erbauer eines Hochspannungsmasts abtreten möchte.
Doch wie ist dem Allgemeinwohl gedient, wenn ein Mieter einfach einen anderen Vermieter bekommt und er den Mietzins statt an „Deutsche Wohnen“ nun an die Stadt Berlin überweist, die das Geld dann ihrerseits an „Deutsche Wohnen“ überweisen muss, um den Kaufpreis abzustottern, erschließt sich weder dem Gemeinwohl noch mir. Ein Irrsinn, der durch den Länderfinanzausgleich ermöglich wird und der für keine einzige neue Wohnung in Berlin sorgen kann. Dort wäre man gern wie New York City, verprasst das Geld wie Dubai und das mit Einnahmen, die eher zu Bremerhaven passen und enden wird das ganze wie Havanna. Bis dahin wird gefeiert, ist ja noch lange hin.
Doch kommen wir zum Verlierer des Abends, zu Armin Laschet, der seit seiner Kür zum Merkelerben versucht hat, gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu gehen und deshalb fast zwangsläufig über die eigenen Füße stolpern musste. Im Gegensatz zu Merkel von Kohl schaffte er es nie, sich deutlich von der ewigen Kanzlerin abzugrenzen. Deren Dolchstoß gegen ihren Mentor, damals in der FAZ, bereitete ihre Machtergreifung vor, während heute kein Laschet, kein Söder und auch kein Merz in Sicht ist, der das Messer auch nur zu halten wagte. Die Ära Merkel lastet wie ein dicker Hefeteig auf allem, was die Union anfasst. Und die will es offenbar so und hat immer noch nicht erkannt, dass es nun, da Merkel vorerst ins uckermärkische Hinterland abtauchen wird, zu spät ist für eine Abrechnung und die Inventur des Scherbenhaufens, den sie in ihrer Partei und im Land hinterlassen hat. Ja, Laschets Kadavergehorsam ging soweit, selbst in der bittersten Niederlage noch anerkennende und lobende Worte für Merkel zu finden, begleitet von begeistertem Applaus des Parteipublikums.
Ja was denn nun?
Die Schizophrenie eines Wahlkampfes, der einerseits erreichtes beschwor und die Kanzlerin über den grünen Klee lobte und andererseits von nötigen Veränderungen und Aufbruch palaverte, ließ das Publikum mit genau einer Frage zurück: „Ja was denn nun?“ Stattdessen leistet man sich eine innerparteiliche Abwehrschlacht der besonders ekelhaften Sorte und schießt in Thüringen ganz offen gegen den eigenen Kandidaten Hans-Georg Maaßen. Insgesamt also Wahlkampf als Posse und Tragödie in einer Partei, die wohl noch einige Zeit unter einem bösen Trennungsschmerz leiden wird, denn Mutti ist fort und das Erdolchen kann nun – sofern er klug ist und sich gegen die Inquisitoren seiner Partei durchsetzen kann – Olaf Scholz post festum und ohne Gegenwehr erledigen. Wenn die Hexe des Ostens weg ist, erscheinen selbst die feigsten Löwen mutig. Ein Kanzler Olaf der erste ginge gewissermaßen den umgekehrten Weg Gerhard Schröders, indem er die Ungeheuerlichkeiten vor seinem Amtsantritt beging, statt erst danach. Mit faustdicken Flecken wie Wirecard, CumEx oder dem brennenden G20-Hamburg auf der Weste, unterbietet Scholz zumindest in jüngerer Zeit den Integritätsrekord für die Kanzlerschaft mühelos.
Laschets Andeutungen, auch ohne stärkste Fraktion offen zu sein für Gespräche, treibt indes den Preis hoch, den Scholz Grünen und FDP wird zahlen müssen. Ein Klimaministerium vielleicht? Kohleausstieg gleich morgen und der Görlitzer Park wird mit dem Hambacher Forst fusioniert? Können wir alle auch von Armin haben, lieber Olaf. Und der Christian Lindner sagt, er würde sowieso lieber mit dem Armin als mit dir…je nachdem, wie weit die Grünen also den Bogen FDP zu spannen vermögen, bekommen wir so auf jeden Fall die denkbar grünste Koalition und außer Klima, Klima und natürlich Klima wird es keine Probleme mehr in diesem Land geben. Außer…dem Linder platzt wieder der Kragen und die Groko, die so groß gar nicht mehr ist, geht unter neuem Vorzeichen in die nächste Runde.
Bleiben noch die beiden Parteien, die mit der Regierungsbildung nichts zu tun haben werden. Die eine aus Prinzip nicht, die andere, weil sie sich fast bis zum Verschwinden halbiert hat. Die Tränen der Mauerschützenpartei konnten nur getrocknet werden, weil drei Direktmandate dafür sorgen, dass die 5%-Hürde nicht griff. Wenn Hennig-Wellsow nun ankündigt, die Linke werde sich programmatisch neu aufstellen, treibt das den Kurs von Kreideherstellern in die Höhe, denn die Partei wird viel Kreide fressen, um die rauhe Stimme des Wolfes hinter Worthülsen wie „Gerechtigkeit“ oder „bessere Gesellschaft“ verstecken zu können. Doch in den ehemaligen Hochburgen der SED im Osten sterben die alten Stasi-Bonzen langsam weg und die Jugend wählt heute lieber FDP als den Paradiesversprechen linker Bauernfänger zu glauben.
Die AfD hat gezeigt, dass sie sich nicht mehr aus den parlamentarischen Strukturen herausignorieren und hinweghassen lässt. Doch die Normalität wird sich noch lange nicht einstellen, zu groß ist für alle anderen Parteien die Versuchung, alles Unheil, für das man meist selbst verantwortlich ist, auf sie zu projizieren. Doch das Prinzip „Ausgrenzung um jede Preis“ versagt, wie man in Sachsen und Thüringen sieht. Die Wähler lassen sich weder Angst einjagen noch glauben sie blind all das, was Presse und Politik tagtäglich über der Schwefelbubenpartei auskübeln. Ohne Machtoption aber als Oppositionspartei gesetzt und in der letzten Legislatur teilweise als einzige Partei auch als Opposition wahrgenommen, spielt sie eine wichtige Rolle in einem Parlament, dass in den letzten Jahren immer mehr zum Akklamationsorgan der Regierung verkommen war.
So gesehen ist es vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn auch ein Fähnlein Fieselschweif der Linken noch im Parlament sitzen darf – und sie dürfen mir glauben, liebe Leser, mich widert diese Erkenntnis an. Aber wenn man mal von den gestohlenen Milliarden des SED-Vermögens absieht, gehört zu einem breiten Meinungsspektrum leider auch die Linken mit ihren utopischen und letztlich immer zerstörerischen Ideen und weil ich politischen Streit lieber in den Parlamenten als auf der Straße sehe, muss ich auch mit der Anwesenheit der Linken leben. Da die Granden dieser Partei den Begriff „liberal“ nicht ohne Zähneknirschen aussprechen können, beruht der Ekel sicher auf Gegenseitigkeit.
Bei all den Spekulationen über Kanzler und Koalitionen hätte ich zum Schluss auch noch einen alternativen Vorschlag, einen, mit dem alle Seiten gleichermaßen unglücklich wären – was für einen Kompromiss bekanntlich ein gutes Zeichen ist. Macht doch einfach Stefan Seidler vom Südschleswigsche Wählerverband SSW, der für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein erstmals seit 1953 ein Bundestagsmandat errungen hat, zum Kanzler! Ein bisschen mehr Dänemark wagen, etwas mehr kühle Vernunft und das Bewusstsein, nicht der Nabel der Welt und für all deren Elend verantwortlich zu sein, sowie mehr Rationalität und Verantwortung in Sachen Migration könnte Deutschland gut tun.
Alles richtig, nur:
„…weil ich politischen Streit lieber in den Parlamenten als auf der Straße sehe…“
Ich wage zu bezweifeln, dass die Antifa von der Straße verschwindet, nur weil ihre Freunde im Parlament sitzen.
Sehen Sie’s als „I have a dream“ Idee. 😉
Für alle die nicht auf allen Medien unterwegs sind, eine Analyse Berlins von Alexander Wendt. Lesenswert!
https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/reisefuehrer-durch-den-themenpark-berlin/
Ansonsten guter Kommentar Roger.
Herr Letsch,
was tun, in Anbetracht des sich seit Jahren vertiefenden Irrsinns ? Es ist wie Sie sagen, die Grünen spielen mit den anderen Altparteienkomparsen Augsburger Puppenkiste. Der Sachverstand der grünen Khmer strebt gegen eins durch unendlich und dennoch werden Scholz, Laschet, Lindner et al genau den Schwachsinn machen, den die vorgeben.
Roger Letsch, Sie sind ein Lügner! »Noch keine Analyse« ist eine der treffendsten – als Kommentar getarnten – Analysen, die ich bislang nach der Wahl las. Sie führen mich nicht hinters Licht, Sie nicht! 😉
Ich bekenne mich schuldig, ich kann nicht mal beim Kommentieren das Herumanalysieren lassen. 😀
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