Können Sie sich an die mediale Berichterstattung unmittelbar nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt erinnern? Die ratlosen Reporter, die in Kameras blickten und in Mikrofone sprachen, während hundert Meter hinter ihnen die Blaulichter der Polizei den Tatort umflackerten? Zähes, stundenlanges und in immer neue, holperige Nullsätze mühsam eingepacktes Nichtwissen, das den Zuschauern als die „totale Transparenz“ verkauft wurde. Das war die Oberfläche. Der Subtext war entscheidender. Und der lautete: „bleiben Sie an den Fernsehgeräten, bleiben sie ruhig, greifen sie nicht – ich wiederhole: NICHT zu Fackeln und Mistgabeln. Bleiben Sie ruhig, die Behörden haben die Lage im Griff.“ – die Regierung und ihre Medienauguren waren jedoch sehr wohl im Alarmmodus. Einen Gemütszustand, den man dem Volk lieber nicht zugestehen mochte. Ein Teil der Fakten könnte das Volk verunsichern, ein Teil der Bevölkerungsmeinung verunsichert die Regierung hingegen nicht.

Die Frage ist nun, ob solches Lynch-Wetter wirklich am Horizont stand, oder ob die Bürger dieses Landes sich am Ende nicht doch meist vernünftiger verhalten, als ihre Regierung es ihnen gemeinhin unterstellt.

Interessant an der aktuellen Lage in Europa ist, dass die von den Staaten als gefährlich aufmüpfig empfundene autochtone Bevölkerung nicht etwa von der post-adoleszenten und mit Selbstfindung und altersbedingter Rebellion befassten Jugend ausgeht – was zu erwarten wäre, sondern von viel weiter oben in der Alterspyramide kommt. Während die Jugend auf die Segnungen und Alimentierungen durch Regierungen und übernationalen Organisationen wie UN und EU hoffen, versuchen sich die „Alten“ der Abschaffung einer klar auf Eigenverantwortung und gesunden Bürgerverstand beruhenden Gesellschaft entgegen zu stellen. Der Brexit, Proteste gegen Stuttgart 21, AfD…alles nicht gerade Beispiele, in denen sich die Jugend hörbar für ihre Interessen eingesetzt hätte. Die Jugend geht – mit Abstufungen – scheinbar davon aus, dass der Staat nur gutes im Sinn hat und man ihn „machen lassen“ kann. Ein Missverständnis, dass die „Alten“ zu verantworten haben, weil sie Jahrelang glaubten, der Fortschritt sei nun auf Autopilot und seinen Lauf würden seit 1990 weder Ochs noch Esel aufhalten. Es sieht jedoch so aus, als hätten beide Krippenfiguren mit „rübergemacht“.

Staatliche Erwachsenenerziehung

Es gab Zeiten, da galt die Erziehung (nicht Bildung!) ab einem bestimmten Alter als abgeschlossen. Der Charakter war irgendwann idealerweise so weit gefestigt, dass dessen Inhaber fit für’s Leben war, und auch selbst dafür die volle Verantwortung übernehmen konnte. Heute verschieben wir die Erziehung in großen Teilen ins Erwachsenenalter, belassen die Verantwortung in einer wabernden „gesellschaftlichen“ Cloude und das Bildungssystem sorgt dafür, dass bestimmte Synapsen offen bleiben für die Einflüsterungen der Regierung. Wir sorgen durch Absenkung der Standards dafür, dass möglichst viele Schüler zumindest auf dem Papier die Anforderungen für Beruf und Studium erfüllen und fluten die Köpfe statt mit Wissen lieber mit politisch konnotierten Meta-Normen, mit denen die Jugend zu funktionaleren, geeigneteren Menschen geformt werden soll: Spare Wasser, iss Bio, sei pazifistisch, sei dir deiner Schuld bewusst, einen fiesen ökologischen Fußabdruck im Gesicht von Mutter Erde zu hinterlassen. Falls dann noch Zeit übrig ist, optimiere dich selbst, schone die Sozialkassen, gehe jeden Tag joggen, rauche nicht, trenne deinen Müll und zeige Mitgefühl und Solidarität, wenn dir 20:00 Uhr in der Tagesschau gesagt und gezeigt wird, wofür.

Die katholische Kirche verwendete über viele Jahrhunderte den Begriff der Erbsünde dazu, eine qualitative Gewissensgrenze zwischen der Plebs und dem Klerus zu ziehen. In der intellektuellen Auseinandersetzung mit kritischen Geistern kamen andere Dogmen dazu. Das Bewusstsein von Sünde, Schuld und Sühne ist als Mittel der Beeinflussung längst wieder in die Politik eingezogen und niemand beherrscht diese Klaviatur so gut, wie Grüne und Linke. Der Priester kann auf das Kruzifix hinter ihm zeigen und sagen, dass Jesus für all die Sünder starb, die nun vor ihm knien. Die Hohepriester der Grünen verweisen auf den Klimawandel, wenn es gilt, auch die unsinnigste Marktregulierung oder Steueridee zu begründen, während für die Linken Kapitalismus und Kolonialismus als Beelzebub herhalten müssen, wenn es gilt, die weltweiten Kriege und Migrationsströme zu erklären und uns, den Profiteuren des Kapitalismus, die Schuld daran in die Schuhe zu schieben. Dass es ohne genau diesen Kapitalismus keinen einzigen Grund für niemanden gäbe, sich auf den Weg nach Europa zu machen, blendet man geschickt aus. Des einen Wunschtraum sei des anderen schlechtes Gewissen.

Ähnlich wie die katholische Kirche im europäischen Mittelalter gibt die Chefetage der Linken und Grünen dabei heute nur den ideologischen Überbau vor. Das System lebt davon, dass es ausreichend Überzeugungstäter gibt, die die Denkvorgaben von oben bereitwillig umsetzen und in einem Regelkreislauf aus Gruppenzwang, Denkfaulheit, Selbstbelohnung und Belobigung durch die Gesalbten der Nomenklatura des Herrschaftswissens leben (siehe DiEM 25). Auffällig ist dabei, dass die zahlreichen offengelegten Denunziationen der letzten Zeit aus den Reihen einer bestimmten Partei kamen, von der hier noch gar nicht die Rede war, nämlich ausgerechnet der SPD. Diese bringt sich an der Spitze und an der Basis auf diese Weise in Stellung, das Zweckbündnis im Ganzweitlinks nach den nächsten Wahlen anzuführen. Die Vorstellung dieser Ménage-à-trois verknotet mir die die Finger. Wie Missionare: mit Sendungsbewusstsein ausgestattet und dem Parteibeitritt als Schutzimpfung für das Gewissen werden Meinungen attackiert, indem man versucht, ihnen das finanzielle Wasser abzugraben. Die Angriffe richten sich dabei nie direkt gegen den unmittelbaren Absender unliebiger Meinungen, sondern gegen die Teile der Wirtschaft, die Berührungspunkte mit diesen haben. Es geht nicht nur um Werbung, sondern um bloßen Anschein und die Verhinderung der „Querfinanzierung“. Das bedeutet, dass man den Verdacht des Fehlverhaltens auf alles und Alle anwendet, was mit der „falschen“ Meinung in Berührung kommt. Wohnt man im selben Ort wie ein Pegida-Schreihals, atmet man dieselbe Luft – das macht bereits verdächtig. Weitere Symptome dieser ansteckenden moralischen Erkrankung der Demokratie gefällig? In Essen beispielsweise kontrolliert die „Pelz-Polizei“ die Kragen der Passanten und wird so in einer Weise ins Private wildfremder Menschen übergriffig, die nicht mehr vom Recht gedeckt ist, sondern vom gefühlten Unrecht. Wer solche Einmischung für opportun hält, müsste sich konsequenterweise auch mit den Streifen der Scharia-Polizei abfinden.

Ein anderes Beispiel für den angestrebten linken Meinungsterror ist die Anti-israelische BDS-Bewegung. Der bloße Verdacht, böse militante Siedler könnten an ihrer Herstellung verdienen, lässt BDS-Aktivisten israelische Waren aus den Regalen zerren. Wenn also demnächst der Bäcker in ihrer Straße dichtmacht, muss das nicht an den miesen Kuchen liegen, die er buk. Es könnte sein, dass sein Lieferwagen vor der AfD-Ortszentrale gesehen wurde, was dem Nachbarn der Lehrerin der örtlichen Grundschule aufgefallen ist, die dies dann anlässlich des Elternabends thematisierte (Nur das Bäcker-Beispiel ist frei erfunden, die Wirklichkeit schrieb allerdings schon haarsträubendere Geschichten).

Natürlich wolle man niemanden beeinflussen, jeder kann schließlich mit seinem Auto stehen, wo er will. Dies sei ein freies Land, aber. Hinter solchen „abers“ steht immer die Meinungs-Monokultur, hinter dieser Monokultur stehen Denkverbot, Gedankenunkraut-Vernichtungsphantasien und der Wille zum politisch regimekonformen Wohlverhalten. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Meinungsdiktatur. Ein „aber“ stand schon hinter der Feststellung, die dänischen Mohammed-Karikaturen seien rechtlich erlaubt. Ein „aber“ steht hinter der Feststellung, dass die AfD natürlich ebenso wie jede andere grundrechtskonforme Partei das Recht hat, ihre Meinung zu vertreten und gewählt zu werden. Ein „aber“ steht mittlerweile sogar hinter dem Begriff „Meinungsfreiheit“ selbst, weil man vorsichtig von ihr Gebrauch machen solle, um niemanden zu verletzten. Um diese Tendenz zu verstärken, möchte die Bundesregierung – besonders deren SPD-Teil – dem Begriff Meinungsfreiheit das Wahrheitsgebot zur Seite stellen. Das bedeutet, dass man sich den Austausch von Meinungen und den Dialog über richtig und falsch in Zukunft schenken könnte, weil Meinung gleich Fakt sein muss und so jeder Streit mit Verweis auf den Goldstandard endet. Es könnte amüsant werden zu beobachten, wie islamische Organisationen das „Wahrheitsgebot“ auf die staatliche Gewichtung und Förderung von Religionen anzuwenden versuchen – da hätte man als Inhaber der „reinsten, abstraktesten und letzten“ Offenbarung sicher einiges zu erzählen.

Interpretation von „Bürgerpflicht“

Die meisten Bürger dieses Landes versuchen, politisch möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und warten mit einer klaren Haltung lieber bis kurz vor Schluss, wenn klar scheint, wer den Diskurs für sich entscheidet. Heute herrscht ein Klima aus Angst vor jedem politischen „Fehlverhalten“, weil dies zur eigenen gesellschaftlichen Ächtung führen könnte. Denn Meinungsfehler werden nicht geduldet und umgehend sanktioniert. Wer dagegen gelernt hat, mit einem schlechten Gewissen zu leben, bleibt moralisch erpressbar und ist so ein nützlicher Teil der Wählerschaft.

Eine Mischung aus Selbstinquisition, Meinungsmonopolismus und der anerzogenen Neigung zum schlechten Gewissen sorgt dafür, dass man wildfremde Menschen gern, nachdrücklich und wenn möglich anonym auf fehlerhafte Meinungen hinweist, ohne selbst die vermeintlich richtige Meinung deutlicher als unbedingt nötig wäre, zu vertreten oder diese auch nur begründen zu können. Wichtig ist, dass die Gruppe, deren Meinung man sich anschließt, immer groß genug ist, damit man die Gefahr minimiert. Das Ergebnis ist leider stets das Gegenteil. Je weniger Meinungen es gibt, umso gefährdeter ist die Demokratie. Wir stecken wieder einmal fest in einem übermoralisierten, unterindividualisierten Land, das sich offenbar stets von einer Gesinnungsdiktatur zur anderen schleppt. Willkommen im nächsten antidemokratischen Zeitalter, diesmal unter grüner Flagge. Es ist nur noch nicht entschieden, ob es die des Islam oder der Grünen sein wird.

Reden ist schweigen, Silber ist Gold

Die Übergriffigkeit des politischen ins Private resultiert aus der ständigen Politisierung alles Privaten. Die omnipräsente Gender-Debatte ist ein Paradebeispiel dafür. Daraus zieht die Politik wiederum ihre Legitimation, überall möglichst regelnd und definierend in das private eingreifen zu dürfen. Man denke nur an den energetischen Häuserdämmungswahn oder das EEG-Gesetz, das nach den Plänen der SPD in eine Art GEZ-Haushaltsabgabe umgewandelt werden soll. Dabei werden staatlich verordnete Moralvorstellungen eins zu eins auf das private übertragen. Von dort aus war es nicht mehr weit zu dem Trugschluss, dass sich auch althergebrachte Moralvorstellungen des kleinen, privaten ohne Probleme auf einen ganzen Staat oder gleich die gesamte EU übertragen lassen. Die reflexhaften Reaktionen von Frau Merkel zu Beginn der Flüchtlingskrise ist ein Paradebeispiel („Man muss doch helfen“). Sich unauffällig und unfallfrei in einer Saunagruppe zu bewegen, befähigt leider nicht zum Lenken einer Makrokosmischen Einheit, wie es ein Staat nun mal ist.

„Wollten wir die […] Regeln des Mikrokosmos, d.h. die Regeln der kleinen Horde, Gruppe oder Familie auf den Makrokosmos (die Zivilisation im großen) anwenden, wie unsere Instinkte und Gefühle es uns wünschen lassen, würden wir ihn zerstören. Würden wir aber umgekehrt immer die Regeln der erweiterten Ordnung (Makrokosmos) auf unsere kleinen Gruppen anwenden, so würden wir diese zermalmen.“

F. A. von Hayek, von dem dieses Zitat stammt, würde sich sicherlich im Grabe umdrehen, könnte er sehen, dass die Politik gerade wieder genau dies versucht, nachdem er den letzten derartigen gescheiterten Versuch, der mit dem krachenden Untergang des Sozialismus endete, knapp noch miterlebt hat. Er starb 1992, ein Jahr nach einem anderen Großen unserer Tage, dessen Worte mir angesichts der europäischen Realität im Jahr 2017 fast ebenso prophetisch erscheinen, wie die Hayeks:

Is this the real life, is this just fantasy
Caught in a landside, no escape from reality
Open your eyes, look up to the skies and see…

(Freddie Mercury, Bohemian Rhapsody)

Auch erschienen auf achgut.com

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1 Kommentar

  1. Wir alle wissen, worauf es hinausläuft:

    Es beginnt damit, aus einem Volk „Diejenigen, die schon länger hier leben“ zu machen. Dann knöpft man sich den Wortstamm „Mein“ aus Meinung vor und macht daraus gut lenkbare „Deinung“ …

    Auch wenn Silones Zitat nicht belegt bzw. sogar umstritten ist, kann es sehr wohl sein, dass der nächste dunkle Faschismus als solcher daherkommt, der sich als heller Antifaschismus tarnt …

    Holzauge, sei wachsam!

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