In der nordöstlichen Ecke des Hyde-Parks in London, der größten der königlichen Parkanlagen in der Stadt, befindet sich die „Speakers‘ Corner“. Die dort geltenden Regeln für Rede und Gegenrede sind so einfach wie alt. Jeder darf zuhören, muss aber nicht. Jeder darf auf eine Kiste steigen und jederzeit und solange er mag zu jedem Thema sprechen – mit einer Ausnahme: es darf dabei nicht um die königliche Familie im engeren Sinne gehen. Marx sprach hier, auch Lenin und jede Menge anderer Ideologen, Ränkeschmiede, Weltenrichter und Rhetoriker. Auch George Orwell hielt dort eine Rede über „die Freiheit des Parks“ im Kontext der sich wandelnden Gesetze und der zunehmenden Indolenz der Bürger gegenüber ihren bürgerlichen Freiheiten. Ein Satz aus Orwells Rede berührt mich besonders, weil er so treffend beschreibt, was auch heute wieder oder noch unser Problem ist:

„Wenn eine große Zahl von Menschen an Redefreiheit interessiert ist, wird es Redefreiheit geben, auch wenn das Gesetz sie verbietet; wenn die öffentliche Meinung träge ist, werden unbequeme Minderheiten verfolgt, auch wenn es Gesetze zu ihrem Schutz gibt.“

Seit Jahrhunderten steht diese kleine Ecke im Herzen von London exemplarisch für das, was heute umgangssprachlich als Meinungsfreiheit gezeichnet wird. Nur eben etwas konkreter, weil der Sprechakt als solcher gemeint ist. Die Freiheit, eine Meinung zu haben, ist nämlich nichts wert, wenn man sie nicht auch unter die Leute bringen darf. Der Titel dieses Textes verrät bereits, wohin ich gleich den Bogen schlagen werde. Denn was Orwell noch konkret als „Rede“ bezeichnet, findet heute in erster Linie im Internet statt – zumindest der Teil, welcher dem vorherrschenden politischen Narrativ gerade zu entgleiten scheint. Denn Elon Musk hat Twitter gekauft – zumindest so gut wie – und die Medienmeute dreht völlig frei!

Make Twitter Speakers‘ Corner again

Sie müssen nämlich wissen, liebe Leser, dass mit Twitter bis zur Übernahme durch Musk alles zum Besten stand! Die Demokratie war nicht in Gefahr, die Meinungsfreiheit feierte fröhlich Urständ‘ und die Rechte der User wurden stets gewahrt. Nichts trübte die Stimmung des SZ- oder NYT-Redakteurs, der morgens mit seinem Soja-Latte in der Hand und der warmen Gewissheit im Herzen, heute die Welt wieder ein kleines Bisschen besser zu machen, ins Büro kam, um in den Twittertrends die Inhalte seines Tagwerks ablesen zu können. In der Twitterzentrale und den weltweiten Löschbergwerken schufteten grünhaarige IT-Nerds in Sonderschichten, um dem erklärten Ziel einer „healthy conversation“ Geltung zu verschaffen und verwandelten Twitter immer mehr zum safe space einer bestimmten politischen Interpretation und Denkweise.

Sperrungen, Löschungen und Datenleaks gab es natürlich zuhauf, die übliche Art, mit der Empörung der Betroffenen umzugehen, ließ jedoch weder Dringlichkeit noch Betroffenheit in den Medien erkennen. Warum auch, es betraf ja immer die Richtigen. „Ist da was?“ fragte die Presse. „Also abgesehen von Verschwörungstheorien? Wirklich? Reichweitendämpfung, Shadowing, verschwundene Follower, Sperrungen ohne Angabe von Gründen? Bitte gehen sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!“ Und überhaupt: Twitter ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen und kann machen was es will. Deshalb seien auch all die Klagen oppositioneller oder konservativer Kreise völlig unbegründet, da fände Zensur statt. Denn Zensur ist kann es nur sein, wenn der Staat es macht! Macht es eine Firma, nennt man das Gemeinschaftsstandards!

Des Warnens ist momentan jedenfalls kein Ende und die Auguren überschlagen sich mit düsteren Prophezeiungen, was dieser Deal wohl für die Welt bereithalten könnte. Selbst Medien wie „Capital“, die solche Übernahmen oder Merger in der Vergangenheit eher von der Seitenlinie nüchtern kommentierten, kleben sich nun auf die journalistische Straße, um ihr geliebtes Twitter vor der drohenden Freiheit zu bewahren. Für Hannah Schwär ist das alles nämlich „brandgefährlich“!

„Der reichste Mann der Welt wird damit künftig einen der einflussreichsten Diskursräume der Welt kontrollieren. Doch ist das wirklich eine gute Nachricht, so wie Musk es glaubhaft machen will? Das Gegenteil ist der Fall: Eine solche Machkonzentration ist für die Demokratie brandgefährlich.“

Alles gefährdet die Demokratie, darunter macht’s hier offenbar keiner mehr. Sogar die Demokratie gefährdet die Demokratie, wie wir wissen. Wahlen mussten schon rückgängig gemacht werden wegen dieser gefährlichen Demokratie! Machen Sie die Augen auf, Frau Schwär und schauen Sie sich um in den Monopolen, die sie umgeben. Der Euro ist in Gefahr, der Frieden ist in Gefahr, unsere Energieversorgung ist in Gefahr. Alles Gefahren, in die uns demokratische Staaten und ihre demokratisch gewählten Regierungen gebracht haben – nationale wie transnationale. Machtkonzentrationen wohin man schaut, in Brüssel, in Berlin, in Paris…und überall geht es höchst demokratisch zu. Demokratisch wurde auch beschlossen und mit einer „pandemischen Lage“ begründet, dass Grundrechte nicht mehr galten. Manche haben wir bis heute nicht zurück – trotz Demokratie!

Ganz „demokratisch“ reißt der Staat immer mehr Kompetenzen an sich, möchte bestimmen, welche Behandlungen man an sich vornehmen lassen muss, wohin man reisen, was man essen und wen man auf keinen Fall wählen darf, denn alles andere wäre ja undemokratisch bei demokratischen Wahlen! Brandgefährlich nenne ich all das! Und daraus ergeben sich weitaus existenziellere Probleme als der Eigentümerwechsel eines privaten Tech-Unternehmens, welches demnächst vielleicht nicht mehr riesigen Hedgefonds und saudischen Prinzen gehört und mit unsichtbaren Fäden den politischen Diskurs bestimmt, sondern einem Raumfahrtpionier und Luxusautobauer aus Südafrika, dem deutsche Regierungen mit vor Aufregung zitternden Händen sonst gern Subventionen hinterherwerfen, weil neuerdings alles elektrisch sein muss. Wurde darüber schon mal demokratisch abgestimmt? Ich weiß schon: besser nicht, denn das wäre dann wirklich brandgefährlich für unsere Demokratie!

Guter Milliardär, böser Milliardär

„Musk verfügt nun über ein mächtiges Megafon, das er für seine libertäre Ideologie einsetzen kann. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er seine Eigentümerrolle bei Twitter dafür nutzen will. Einige seiner Ideen sind durchaus vernünftig, etwa die Offenlegung des Algorithmus oder ein stärkeres Vorgehen gegen Spam-Bots. Über all dem schwebt jedoch ein gewaltiger Interessenskonflikt: Musk selbst nutzt die Plattform seit Jahren, um seine Firmen Tesla und SpaceX zu bewerben. Seine kommerziellen Interessen werden zwangsläufig mit den Prinzipien der Redefreiheit kollidieren…“

Der Vorwurf ergibt leider überhaupt keinen Sinn. Immer vorausgesetzt, Musk macht seine Ankündigung wahr, auf Twitter Redefreiheit herzustellen, kann es ebendeshalb überhaupt keine Interessenkonflikte geben. Die Redefreiheit hätten dann sowohl SpaceX und Tesla als auch Kritiker von SpaceX und Tesla. Das Gegenteil von „Interessenkonflikt“ ist hier der Fall: Musk schafft ein Spielfeld mit transparenten Regeln. Besser geht’s doch gar nicht! Schwär konstruiert vorab Konflikte, die in anderen Fällen nicht mal dann die Gewissen der Medienmacher kitzeln, wenn sie im vollen Gange sind.

MSNBC wurde von Microsoft mitgegründet, die Washington Post gehört Jeff Bezos und Spiegel und ZEIT erhalten fette Spenden zur „demokratischen Landschaftspflege“ von Bill Gates. Ob es da Interessenkonflikte bei der Berichterstattung über die Aktivitäten der Gates-Stiftung gibt, möchten Journalisten in Deutschland nicht wissen. Und wenn wir schon das Fass mit der Aufschrift „Interessenkonflikt“ aufmachen, wo war die Kritik an der seit zwei Jahren anhaltenden Durchseuchung (ich sollte besser von Durchimpfung sprechen) der Medienlandschaft mit Geld von Pfizer? Außerdem: Wenn das Milljöh stimmt, braucht es keinen Herrscher, um etwas in die gewünschte Richtung zu drücken. Das ist bei Twitter übrigens der Ist-Zustand, nicht der, den Musk herstellen will!

Und was hat die Autorin an „Offenlegung des Algorithmus“ nicht verstanden? Nur wenn man weiß, wie das System funktionieren müsste, kann man überhaupt Manipulationen erkennen. Bisher ist das doch gerade das Problem von Twitter, weil entweder völlig unsinnige oder willkürliche Regeln existierten („Learn To Code“ führte zur sofortigen und kommentarlosen Sperrung) oder niemand der Benutzer die Regeln wirklich kennt. Es ist, als fahre man mit dem Auto und nur die Polizei kennt die gerade gültigen Regeln der Straßenverkehrsordnung. Man wird angehalten und bestraft, weil man ein schwarzes Auto fährt und das Verkehrsgericht verhandelt den Fall an einem unbekannten Ort in ihrer Abwesenheit ohne Berufungsmöglichkeiten. Diesem Zustand weine ich keine Träne nach, alles ist besser als das!

„… Etwa dann, wenn er darüber entscheiden kann, die Accounts derjenigen Politiker zu sperren, die seine Unternehmen regulieren.“

Das wäre allerdings ein Skandal! Anders als 2020, als Twitter die Accounts derjenigen Medien und Journalisten sperrte, die durch skandalöse Enthüllungen über Geschäfte in China und der Ukraine die Wahl Joe Bidens zu verhindern drohten. Die New York Post wurde wegen der Hunter-Biden-Story von Twitter gesperrt, die Verbreitung des Artikels aktiv verhindert und stattdessen die mittlerweile widerlegte Geschichte von „russischer Desinformation“ verbreitet. Das war seltsamerweise kein Skandal! Schon vergessen, Frau Schwär?

„Wie naiv diese Vorstellung im Zeitalter der sozialen Medien ist, zeigte spätestens die Ära Donald Trump. Mit seiner ungezügelten Twitter-Hetze stachelte der damalige US-Präsident seine Anhänger zum Sturm auf das Kapitol auf. In Folge der gewaltsamen Unruhen starben zehn Menschen.“

Das ist eine Lüge, gefüllt mit einer Lüge, eingepackt in eine Lüge. Und ich bin es langsam Leid, diese unbewiesenen oder vor Gericht durchgefallenen Behauptungen lesen zu müssen. Natürlich verdanken wir die Verbreitung dieses Unsinns (und die Unterdrückung der Gegendarstellungen) gerade der Plattform, die Frau Schwär so sehr in Gefahr sieht. Trump hat so manchen Blödsinn auf Twitter abgelassen, das ist mal sicher. Aber weder hat er seine Anhänger zum Sturm auf das Kapitol aufgerufen noch starben bei den Unruhen zehn Menschen. Nettes Framing übrigens. Denn da steht ja nur „in Folge“, was natürlich ganz großzügig auch Todesfälle mit einschließt, die nicht direkt durch die Vorkommnisse am 6. Januar 2021 verursacht wurden.

Es gab aber nur ein Todesopfer an diesem Tag und das was eine ins Kapitol eingedrungene Demonstrantin, die von einem Polizisten erschossen wurde. Sonst nichts als viel heiße Luft und viele Freisprüche bei den sich hinziehende Prozessen, weil selbst die Gerichte anerkennen mussten, dass viele der Leute schlicht und einfach von der Polizei ins Gebäude hineingelassen wurden. Unbefugtes Betreten ist noch das schärfste, was einigen „Insurrectionists“ nachgewiesen werden konnte. Wir müssen uns nicht über die Dummheit unterhalten, aus dieser lautstarken Gruppe Demonstranten heraus an diesem Tag ins Kapitol zu laufen. Aber die Vorkommnisse des 6. Januar als Letztbeweis für die Notwendigkeit der Sperrung von Trump auf Twitter anzuführen, ist geradezu der Beleg dafür, dass Twitter unterhalb des Gesetzes eine weitere Ebene der Sanktionierung eingezogen hat, auf der Fakten irrelevant sind.

„Musk glaubt in seiner Hybris, damit die Demokratie zu retten, doch in Wahrheit ist die Abkehr von Moderationsregeln brandgefährlich für die Redefreiheit. Studien zeigen, dass Hassrede oft die Schwächsten aus dem Meinungsmarkt drängt. Gerade jene Menschen, die von den Plattformen nicht vor Online-Hetze geschützt werden, ziehen sich dann von ihnen zurück. Der Pluralismus geht damit in die Knie und überlässt das Spielfeld den Trollen und Hetzern. Das Ergebnis ist weniger Meinungsfreiheit, nicht mehr.“

Zirkelschlüsse, unklare Begriffe und dubioses, unbelegtes Expertengeklingel gehen in diesem Abschnitt Hand in Hand spazieren. Mehr Redefreiheit ist also Gift für die Redefreiheit? Schreib das 100 mal an eine Tafel, ohne zu lachen! Die Wieselphrase „Studien zeigen“ ist stets so schnell zur Hand wie „Experten sagen“ oder „Lauterbach warnt“. Welche Studien? Wer hat sie angefertigt und für wen? Keine Belege, nur ex-cathedra-Geblubber aus der „Frag-nicht-Schachtel“.

Vor Online-Hetze (auch so ein Wort, das in Zeiten von Schneeeflocken, Safe Spaces und durchgeknallten Endzeitsekten für so ziemlich alles herhalten muss, was früher Widerspruch genannt wurde) schützt das Gesetz. Und wem das nicht schnell genug ist, die Blockierfunktion. Eine der wenigen Erfindungen auf Twitter, die schon jetzt prima funktionieren. Seit Böhmermann mich blockiert hat, erspart er sich nicht nur meine Kommentare (obwohl ich ihm nie die Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ, welche zu schreiben) – es erspart mir auch, Tweets von ihm zu lesen. Es ist, als wüsste ich nicht, dass er im Hyde Park spricht und ich auch nicht hingehe, um ihm zuzuhören. Himmlische Ruhe, kostbare, gewonnene Zeit!

Ich gehe mit den Kritikern soweit mit, noch keinen Lorbeer für Musk zu pflücken. Es ist legitim anzuraten, erst mal abzuwarten, was er von seinen Plänen umsetzen kann und wie die Staaten darauf reagieren, dass sie nun selbst und buchstäblich zu Zensurmaßnahmen greifen müssen, wenn sie all die meinungssteuernden Einschränkungen aufrecht erhalten wollen, die sie an Twitter so lieben. Die bequemen Verweise auf die „private Firma, die machen kann, was sie will“, funktioniert nicht, wenn es Gesetze sind, die regeln, wer wann was zu wem sagen darf. Da heißt es dann Zensur oder Demokratie – man kann nicht beides haben.

Wer hat Angst vor dem Raketenmann?

Die Redefreiheit in „Speakers‘ Corner“ wurde übrigens erst einmal mit Gewalt unterbrochen. Am 18. März 1945 traf eine deutsche V2, die erste ballistische Artillerie-Rakete der Welt und Keim des späteren Mondprogramms der USA, den Ort in Hyde Park. Drei Menschen wurden getötet. Die Presse möchte uns glauben machen, dass auch 2022 ein Raketenmann eine Gefahr für die Redefreiheit sei. Ganz gleich, ob der das genaue Gegenteil erklärt hat. Und um ehrlich zu sein: eine klitzekleine Wahrscheinlichkeit, dass er gelogen hat, besteht natürlich. Doch man muss schon einen sehr Aluhut mit breiter Krempe tragen, um zu glauben, Musk wäre sowas wie der perfekte Bond-Bösewicht. Dafür stiften seine Raketen zu viel Nutzen für die Menschheit und richten zu wenig Schaden an. Sie landen stattdessen – anders als die V2 – sanft und mit wunderbarer Präzision auf Dronenschiffen mit so lustigen Namen wie „Just Read the Instructions“ und „Of Course I Still Love You“.

Journalisten wie Hannah Schwär, die entweder Angst vor der Freiheit oder so wenig Zutrauen in die Substanz ihrer eigenen Meinung haben, dass sie sich vor jeder Form unkontrollierter Kritik fürchten, möchte ich empfehlen, ihre Thesen vor wildfremden Menschen auszubreiten, um aus der Resonanz des Publikums wertvolle Rückschlüsse über den Gehalt der Rede zu ziehen und über die Fähigkeit, andere zu begeistern. Warum es nicht mal im Hyde Park in London versuchen, solange auf Twitter noch nicht die Meinungsfreiheit mit Elon Musk eingezogen ist?

(Musik zum Text: „The Times They Are A-Changin“, Bob Dylan)

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1 Kommentar

  1. Nunja, am Ende wird die schön aufgebaute, durch Benachteiligungsgewäsch und Ideologietreue etablierte parasitäre Existenz doch glatt noch durch Kritik und -ihgitt- Fakten in Frage gestellt.
    Da muß doch der Musk das absolute Böse sein.
    Am Ende nennt sonst noch jemand nutzlose Quotentrullas, die verheerenden Schaden anrichten und angerichtet haben, nutzlose Quotentrullas.

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