Selbst wenn Nachkriegskonferenzen, Gerichtsurteile, freiwilligen Zahlungen, Formulierungstricks und bilateralen Vereinbarungen zwischen Griechenland und Deutschland die Reparationsfrage als erledigt zurücklassen finde ich es geschmacklos, die aktuellen Schulden mit diesen Forderungen zu verknüpfen. Zugegeben: Von Seiten der Bundesregierung hört man derlei Verquickung nicht. Aber die Blogs und Foren hierzulande sind voll mit Gehässigkeiten, die man höchstens oberflächlich nachvollziehen kann. Ich möchte gern etwas tiefer graben und auch unsere griechischen Freunde einladen, etwas genauer hinzusehen.
Die Fakten in Griechenland
Griechenland ist so hoch verschuldet, hat so viele Defizite in Sachen Verwaltung, Finanzen, Investitionen und (ja, auch) Demokratie, dass ein Ausweg ohne völligen Zusammenbruch kaum mehr möglich erscheint. Die deutsche Bevölkerung beobachtet mit einer unangenehmen Mischung aus Staunen, Entsetzen, Häme und Wut, was in Athen vor sich geht. Die griechische Regierung nimmt als Ursache ihrer katastrophalen Lage nicht etwa das jahrzehntelange versagen ihrer Eliten, sondern das Verhalten ihrer Geldgeber EZB, IWF, EU und Deutschlands im Besonderen wahr. Nun hat die Regierung Tsipras eine Expertenkommission aus über 50.000 Seiten historischer Dokumente eine Zahl destillieren lassen: 278 Mdr. Euro schuldet Deutschland angeblich den Griechen. Eine weitere Expertenkommission befasst sich gerade intensiv mit den Ursachen „…der Schuldenkrise von 2009„. Der ersten Kommission sei empfohlen, jetzt nach getaner Arbeit schnellstens die wenigen Seiten der Lagarde-Liste (am besten das Original nochmal anfordern) von 2010 durchzurechnen – dort ist wirklich was zu holen. Der zweiten Kommission wünsche ich viel Erfolg und hoffe, es werden die Ursachen untersucht, wie es zur Krise 2009 kam und nicht, was danach zur Vermeidung eines Kollaps unternommen werden musste und wem man dafür die Schuld in die Schuhe schieben kann. Leider deutet die entsprechende Pressemeldung auf letzteres hin. Wär ja auch noch schöner, wenn Griechenland für die Misere selbst verantwortlich wäre!
Die Fakten in Deutschland
Reparationen sind über viele tausend Jahre üblich gewesen. Der Besiegte zahlt die Zeche, denn Sieger zahlen niemals Reparationen. Rom wurde so zur Supermacht der Antike, Karl der Große verfuhr so mit Sachsen und Langobarden, die Heere Tillys und Wallensteins im dreißigjährigen Krieg und Ludwig der XIV. mit der Pfalz. Dazu kamen dann gern noch Kosten für die Besetzung des besiegten Landes. Spätestens seit dem Versailler Vertrag wissen wir aber, wohin das führen kann. Insbesondere wenn man in die Rechnung noch eine gewisse „Nachhaltigkeit“ einbaut, um dem besiegten Gegner auch in der Zukunft die Luft zum Atmen zu nehmen. Nach dem zweiten Weltkrieg waren die Sieger klüger. Manche zumindest. Das Ergebnis war jedoch auch, dass Deutschland im Osten große Gebietsverluste hinnehmen musste. Ostpreußen, Pommern und Schlesien gingen an die Sowjetunion und Polen. Die Sowjetunion verzichtete zudem keineswegs auf Reparationen und bediente sich kräftig und langfristig in der DDR.
Kann man das menschliche Leid, den immensen wirtschaftlichen Schaden und den Schaden in den Köpfen der Menschen ermessen, in Zahlen fassen, auf ein Konto überweisen und damit Schuld tilgen? Sicher nicht. Schon deshalb nicht, weil sich Leid kaum in Geld ausdrücken lässt. Haben die Griechen im Krieg gelitten? Ja, erst unter den Italienern, dann in noch größerem Maße unter der deutschen Besatzung. Auch wenn es völkerrechtlich keinen Anspruch auf Reparationen geben mag finde ich die Art und Weise, wie zum Beispiel das auswärtige Amt mit einzelnen Anfragen Überlebender aus Griechenland umging, einfach beschämend! Es stünde uns gut zu Gesicht wenn wir für solche Fälle – eine menschlichere Betrachtungsweise an den Tag legen würden. Zumal Zuwendungen DIREKT an betroffene Menschen gehen würden und nicht dem löchrigen Regierungsapparat Griechenlands in die Hände fallen könnten. Hier gilt: Grieche vor Griechenland! Ich reden hier nicht von Reparationen, sondern von Anerkennung persönlichen, unverschuldeten Leids. Das ist ein großer Unterschied.
Die Büchse der Pandora
Aber sei’s ‚drum, fangen wir mal spaßeshalber dennoch an zu rechnen. Tun wir so, als gingen wir zu Kasse und Deutschland bekommt nun die Quittung für die Gräuel des 70 Jahre zurückliegenden Krieges. Alle warten gespannt auf die Gelder, die nun sprudeln werden. Wir können mit Zins und Zinseszins ordentlich was zusammenphantasieren. Aber ich mache mir die Sache mal etwas einfacher. Gehen wir mal davon aus, die Griechen haben richtig gerechnet, runden die Sache aber der Einfachheit halber auf 250 Mrd. Euro ab. Gehen wir weiterhin davon aus dass der Schaden den Wehrmacht und SS angerichtet haben, in etwa proportional zur Bevölkerungszahl des überfallenen Landes wächst, was bei Griechenland heute ungefähr 10 Millionen Menschen sind, und fangen mal an zu rechnen: Man möge mir verzeihen wenn die folgende Aufzählung nicht vollständig ist. Deutschland stand mit so vielen Ländern im Krieg, dass ich sicher einige vergessen habe. Die größten Posten sind aber die folgenden:
Polen 950, Tschechien 250, Slovakei 125, Serbien 175, Slovenien 50, Griechenland 250, Belgien 275, Niederlande 400, Frankreich 1650, Dänemark 125, Großbritannien 1500, Norwegen 125, Sowjetunion 6250, Libyen 150…alle Angaben in Mrd. Euro.
Macht zusammen:
12.275.000.000.000 Euro
(Zwölfbillionenzweihundertfünfundsiebzigmilliarden)
Wer nun glaubt, diese Phantastilliarde wäre vollkommen an den Haaren herbeigezogen, der irrt! Das könnte in etwa die Forderung sein auf die wir uns einstellen können, wenn unsere Bundesregierung auch nur in Erwägung zieht, in dieser Sache mit der griechischen Regierung zu verhandeln. Mit welchem Recht könnten wir anderen Völkern Zahlungen verweigern? Konsequenz: Unsere Insolvenz!
All unsere Verbindlichkeiten können nicht mehr bedient werden, Bundesbank und EZB stehen vor einem riesigen Scherbenhaufen. Unsere Mitgliedsbeiträge zur EU können wir nicht mehr bezahlen und treten aus der EU aus, …eine Kettenreaktion. Wir führen quasi über Nacht die D-Mark als eine Art „Notgeld“ wieder ein, der Euro stürzt ins Bodenlose. Von Krediten am internationalen Finanzmarkt können wir uns erst mal verabschieden, aber unsere 86% Staatsverschuldung sind auch weg. Dank Schäubles „schwarzer Null“ und massiven Eingriffen ist Steuer- und Sozialsysteme kommen wir gerade so klar. Es liegen 15 verdammt harte Jahre vor uns. Vor Griechenland und dem Rest Europas übrigens auch.
Das Grundproblem unserer Zeit ist nicht, dass wir vergangene Konflikte nicht gründlich genug „abgerechnet“ haben, sondern zukünftige Konflikte nicht sorgfältig genug zu verhindern in der Lage sind.
Wohlverhalten und Schuldenschnitt
In Deutschland gibt es ein Insolvenzrecht für Firmen und Privatpersonen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Insolvente Firmen (sofern Kapitalgesellschaften) werden meist abgewickelt und deren Masse veräußert, um Gläubiger zu bedienen. Die Gesellschafter stehen je nach Gesellschaftsform in der Haftung und müssen womöglich auch straf- und zivilrechtlich Konsequenzen fürchten. Am Ende ist die Bude zu oder es steht ein anderer Name an der Tür. Einem Land steht dieser Weg nicht offen, schon weil es im eigentlichen Sinne keinen Eigentümer gibt. Eine überschuldete Privatperson hat da andere Möglichkeiten – die allgemeinen Menschenrechte verbieten naturgemäß eine „Abwicklung“, hier geschieht anderes. Zunächst einmal einen Strich unter die ganzen Zahlen, dann ein Blick auf das, was dem an „Masse“ gegenüber steht. Die Masse wird den Gläubigern proportional als Ausgleich angeboten, was diese oft ablehnen. Die Insolvenz wird festgestellt und nach einer sogenannten Wohlverhaltensphase von mehreren Jahren erfolgt ein Schuldenschnitt. Diese Phase dient dazu festzustellen, dass der Schuldner ein gesundes Gleichgewicht an Einnahmen und Ausgaben erzielen und beibehalten kann. Bei Staaten ist es etwas komplizierter. Wer sich zum Beispiel an Institutionen wie den IWF um Hilfe wendet muss wissen, dass denen bei der Rückzahlung der Kredite die wirtschaftliche Lage des Nehmerlandes komplett wurscht ist. Zahltag ist Zahltag. Der IWF hat deshalb in etwa den Ruf einer der Kreditfirmen, von denen man Nachrichten der Art „Kredit ohne Schufa“ im Spam-Ordner findet.
Im Prinzip ist in Griechenlands folgendes passiert: 2010 wurden Griechenlands Kredite so gestellt, dass sie sich mit den Hilfszahlungen aus den Rettungsfonds bedienen lassen. Alles was darüber hinaus ging, wurde gekappt. Haircut nannte man das. Es fand außerdem eine Umlagerung der Risiken statt, indem die Kredite aus privater in öffentliche Hand gelangten. Das Risiko des Ausfalls tragen nun größtenteils die europäischen Steuerzahler. Für Griechenland hat das nur Vorteile: Denn Staatsanleihen z. B. in den Händen eines gewissen Herrn Paul Singer wären ein unkalkulierbares Risiko (siehe aktuell Argentinien). Was nun von Griechenland erwartet wurde war nichts anderes als eine mehrjährige Wohlverhaltensphase. Griechenland sollte sich selbst finanzieren und musste dazu genau die Maßnahmen ergreifen, auf die wir alle noch immer vergeblich warten. Ich wette darauf, nach sechs bis acht Jahren hätte man dann einen schrittweisen Schuldenschnitt durchgezogen. Still und leise. Aber einen Schuldenschnitt kann es immer erst NACH der Wohlverhaltensphase geben! Die aktuelle griechische Regierung hätte es gern anders herum, worauf sich die Gläubiger nicht einlassen wollen.
Was machte die „Troika“ nur für Sachen
Ich bin von Natur aus zwar Pessimist, glaube aber auch, dass es auf dieser Welt nur wenige Menschen gibt die morgens mit dem Ziel aufstehen, anderen Menschen möglichst umfassend zu schaden. In Griechenland sind nach meiner Meinung also nicht irgendwelche Revolvertypen mit bösem Blick einmarschiert, die nur mit einem Knurren Fetakäse zum schmelzen bringen, sondern Brüsseler Bürokraten. Wie funktionieren solche Typen? Ganz einfach: Wie in einem Uhrwerk. Formell, eingebettet zwischen Input und Output. Quasi als Über- oder Untersetzung dessen, was an ihnen dreht. Tsipras wirft der Troika vor, u. a. das Gesundheitssystem zerstört zu haben, vergreift sich aber heute selbst an den Reserven der Renten- und Krankenversicherungen – soviel Chutzpe muss man erst mal aufbringen!
Die Griechischen Regierungen kooperieren seit 2010 mit ihren Gläubigern in etwa mit solcher Verve wie ein chronischer Messi, dem Frau Saubermann etwas über den Sinn des Putzen erzählt. Man lässt sich nur ungern in die Karten schauen und beim Geld ausgeben stören. Die griechische Verwaltung: Aufgebläht, teuer und ineffizient. Die griechische Armee: Modern und bis an die Zähne bewaffnet – und ähnlich wie Deutschland von Nato-Partnern umzingelt. Die Lohnstückkosten sind im europäischen Vergleich seit 1995 nirgends so stark gestiegen wie in Griechenland. All diese geliebten Schafe mag man aber nicht scheren. Also präsentierte man den Brüsseler Bürokraten die Sozialsysteme zum verbeißen und zeigt dann mit Tränen in den Augen auf die Bisswunden – und nun sind da auch noch die 70 Jahre alten Wunden darunter wieder zum Vorschein gekommen.
Alles in einen Topf, alles auf eine Karte. Man verlangt Solidarität von Europa, verrät Europa aber beim Schachern mit Russland. In Moskau beschwört man orthodoxe Gemeinsamkeiten und Wurzeln und spielt die Hitler-Karte (das ist immer der schwarze Peter, falls jemand das Spiel nicht kennt), hat aber keine Skrupel, damit zeitgleich den ebenfalls orthodoxen Bruder Ukraine feige zu verraten. Man stelle sich vor, vor 2500 Jahren hätte Athen die Spartaner an die Perser verkauft. Für ein paar Schuldscheine und etwas Gas. So etwa fühlt sich das an. Wiege der Demokratie? Am Arsch! Man empört sich darüber, dass die internationalen Partner den Kurs der neuen Regierung in Athen kritisieren, verweist gern auf den demokratischen Akt der Wahl und die Umsetzung von „Volkes Wille“ und wirft sich im nächsten Augenblick in die Arme eines autokratischen Staates, der sich mit schöner Regelmäßigkeit am Staatsgebiet seiner Nachbarn bedient. Wie eng der Horizont der griechischen Regierung wurde, wie einseitig ihre Forderungen nach Solidarität sind, ist erschreckend.
Die Stunde der Demagogen
Immer wenn die Not am größten ist, wenn es scheinbar keinen Ausweg aus einer verfahrenen Situation gibt, schlägt die Stunde für die Demagogen. Viele Menschen gehen deren Versprechungen auf den Leim, selbst wenn sie bereits ahnen, dass im Wahlkampf nur Luft bewegt wurde. Die Regierung Tsipras agiert ganz so, als hätte sie mit den Vorgängen der letzten 20 – 30 Jahre nicht das geringste zu tun, als sei Griechenland jetzt per Votum ein neues, besseres, anderes Land! Das mag auf das neue Führungspersonal formal zutreffen, aber alles leugnen hilft nicht: Es handelt sich immer noch um dasselbe Land mit denselben Problemen und denselben Ursachen.
Mein Eindruck von Griechenland im Jahr 2015 ist der, dass um das ganze Land herum ein gewaltiges „Reality distorting field“ entstanden ist, welches weder der aktuellen Regierung noch der Mehrheit der Bevölkerung erlaubt, Tatsachen zu erkennen, zu akzeptieren und zu ändern. Steve Jobs sagte man ein solches Feld nach. Ihm ermöglichte es, verbissen an Projekten festzuhalten und einen geradezu übermenschlichen Perfektionismus zu entwickeln. Griechenland lässt dieses Kraftfeld in einer Opferhaltung erstarren. Gestern stand Griechenland schon am Abgrund. Ich fürchte, heute ist man schon einen Schritt weiter.