To Russia with love…

Lieber Waldimir,

es läuft gerade gar nicht gut zwischen uns. Ich habe heute deine Pressekonferenz gesehen in der du ausführlich erklärst, dass an all dem was gerade passiert natürlich ich – der Westen – Schuld bin. Was den Kurs des Rubels angeht, hast du sicher sogar teilweise recht damit. Du bist ein brillanter Taktiker und deine Analysen des Ist-Zustands unserer Beziehungen sind wie immer messerscharf. Leider sind deine Strategischen Fähigkeiten mit deinen taktischen nicht zu vergleichen. Schlimmer noch: Du scheinst anzunehmen, dass auch ich bei der Beurteilung der Lage nur auf die jüngsten Ereignisse schaue. Das ist aber nicht so. Du denkst, keiner würde dich verstehen. Ich denke, das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich werde versuchen, dir die wichtigsten Fakten aus meiner Sicht zu erklären:

1.Theorie: Der Westen möchte sich „dein Fell“ an die Wand hängen (mit anderen Worten, Russland zerstören)

Du hast ein schönes, großes, faszinierendes Land voller gastfreundlicher Menschen, Wälder, Seen, Flüssen, Rohstoffen – du kannst es behalten! Jeder konnte in der Vergangenheit an vielen Beispielen sehen wohin es führt, wenn Staaten zusammenbrechen und Bürgerkriege ausbrechen. Ruanda, Sri Lanka, Irak, Afghanistan, Libyen, Kongo…die Liste ist endlos. Und dabei schauen wir mal gar nicht mehr als etwa 30 Jahre in der Vergangenheit. Ein Zusammenbruch deines russischen Reiches wäre so entsetzlich, dass wir uns das nicht mal vorstellen wollen. Die Beinahe-Katastrophe von 1990 hat uns genügt! Von „echten“ Kriegen mal ganz zu schweigen. Napoleon wusste es und Hitler hätte es auch wissen müssen: Unmöglich! Und wen sollen wir schicken? Etwa unsere Bundeswehr? Die Schweizer Garde? Und deine Atomwaffen haben wir auch nicht vergessen. Also vergiss das mit der Bedrohung ab besten gleich wieder und fürchte nicht um deinen Pelz.

2.Theorie: Der Westen verletzt russische Interessen indem er sich immer weiter nach Osten ausbreitet

Jetzt hast du mich aber erwischt! EU-Osterweiterung, Nato-Mitgliedschaft, eins deiner früheren Satellitenländer hat sogar schon den Euro eingeführt. Das findest du bedrohlich. Aber was bedroht dich? Schauen wir doch zum Beispiel mal aus der Sicht deiner lettischen Nachbarn auf die Tatsachen und fragen, was hatte Russland als Alternative anzubieten? Irgendeine Idee vielleicht, ein Konzept für das Zusammenleben der Völker, rechtssicher und verlässlich, eine Art Sowjetunion 2.0 mit gemeinsamem Parlament, freien Wahlen und freier Marktwirtschaft? Oder mal anders gefragt: Wer hat denn bei der Festlegung von „Einfluss-Sphären“ und Interessengebieten die Litauer, Letten, Esten, Ukrainer oder Georgier gefragt, was diese eigentlich für ihre eigene Zukunft planen? Lieber Wladimir, du redest ja immer wieder gern vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und von deren „inneren Angelegenheiten“. Du wirst mir also zustimmen wenn ich sage, dass die Völker in deinem Westen und Südwesten nicht zu deiner oder meiner Verfügungsmasse gehören, dass diese Völker sehr wohl selbst entscheiden können, was gut für sie ist.

Du hast es ja versucht mit neuen Ideen und Angeboten. Aber die GUS und ihre Nachfolgerorganisationen konnten nicht lange Bestehen. Deinen Nachbarn kommt es vielmehr so vor, als sei das Zusammenleben mit dir umso schwieriger, je eigenständiger sie sich entwickeln. Und kann man es ihnen verübeln, dass sie sich deinem Einfluss zu entziehen versuchen? 70 Jahre mit dir zusammen im Gulag Sowjetunion eingesperrt zu sein, erzeugt Fluchtphantasien. Als endlich die Lagertore offen waren und du den Gulag nun zu einer Wohngemeinschaft umbauen wolltest, war niemand mehr bereit, bei dir einzuziehen. Gut, einige haben es getan. Weißrussland wohnt noch da aber die Ukraine hat bereits gekündigt. Zumindest der größte Teil der Ukraine.

Mit freundlichen Grüßen

Dein Nachbar, der Westen

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