Neben anderen griffigen Sentenzen gibt es einen besonderen Satz, um dessen Erklügelung ich Michael Klonovsky beneide: „Ich komme aus der DDR, ich komme aus der Zukunft.“ Dieser Satz fasst sehr treffend eine nur schwer erklärbare Sammlung von Erfahrungen und Fähigkeiten zusammen, die nur haben kann, wer vor 1989 zumindest kurze Zeit seines Jugend- oder Erwachsenenlebens zwischen Elbe und Oder verbracht hat. Schwer erklärbar deshalb, weil die Reflexe des Publikums meist in die Behauptung münden, die Bundesrepublik ginge schnurstracks in Richtung DDR 2.0 oder es sei in Wirklichkeit der Westen, der 1990 vom Stasi- und SED-verseuchten Osten geschluckt wurde. Doch das griffe eindeutig zu kurz und ist als Erklärung viel zu unterkomplex.

Ein Beispiel: Sollten nach dem 5. Lockdown im Dezember die Reste des stationären Einzelhandelns und die Überbleibsel der Gastronomie in einer staatlichen Holding zusammengefasst werden, würde der so geschaffene und politisch kontrollierte Monopolist unter Kanzlerin Baerbock sicher nicht wieder „Konsum“, sondern „Konsumverzicht“ heißen, meinen Sie nicht auch? Man streicht den Mangel heute nicht bunt an und leugnet ihn wie in der DDR, man feiert ihn, heißt ihn willkommen, muss ihn erst mühsam herbei misswirtschaften. Die DDR konnte diesbezüglich aus sowjetischen Quellen schöpfen und aus dem 1945 zerstörten Ostdeutschland ließen sich immerhin noch 40 Jahre Magermilch-Sozialismus herauspressen. Gemessen am heutigen Standard war selbst die DDR-Nomenklatura bescheiden. Für 40 Jahre Grün wird die vergleichsweise fette Bundesrepublik jedoch nicht ausreichen. Doch man glaubt ja, bald auf weltweite Ressourcen zurückgreifen zu können. Aber ich schweife ab.

Eine DDR 2.0 wird das jedoch nicht werden, soviel ist sicher. Die Methoden sind verfeinert, niemand muss mehr weggesperrt, ausgewiesen oder mit Folter gefügig gemacht werden. Für Spitzeldienste muss auch niemand mehr bezahlt werden, weil dies heute ein beliebter Freiwilligendienst ist, wie wir noch sehen werden. Was die Skills gelernter DDR-Bürger ausmacht, was ihre Nackenhaare aufrichtet, sind die Verhaltensweisen, die jene ohne Macht gegenüber denen mit Macht zu allen Zeiten entwickeln. Teilweise klappt das bei den heutigen Lehrlingen autoritärer Staatsraison noch nicht gut genug, doch vieles ist dem Bundesbürger (Modell 2021, Corona-Edition) bereits wieder in Fleisch und Blut übergegangen.

Diktaturen entstehen selten wie im Hollywoodfilm, über Nacht und durch blutigen Putsch. Die gibt es natürlich auch, aber sie sind nicht die stabilsten. Gut und verhältnismäßig lange hingegen können jene Diktaturen funktionieren – wir wollen sie treffender Autokratien nennen – wenn selbst die exekutiven Institutionen bei allen von ihren durchgeführten Repressalien noch überzeugt sind, sie täten dies im Namen von Freiheit und Demokratie. Nicht Demokratie, sondern Autokratie lebt vom Mitmachen. Und zur Stabilisierung bedarf es der Bekämpfung eines Feindes! Sei dieser eine Klasse, eine Partei, ein Land, eine Religion oder ein Virus.

Eingeübte Verhaltensweisen

Das Flüstern ist wieder da, die vorgehaltene Hand, die eingeübte Floskel, die private Zweitmeinung und die Werktagshaltung. Der Blick über die Schulter, die misstrauischen Blicke auf Polizeiuniformen, das Konspirative, die Suche nach der Grenze des Erlaubten sind längst wieder eingeübt. Die Unangepassten, die noch nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat, oder jene, die es begriffen haben und sich nicht fügen wollen, werden als Verrückte betrachtet. Verrückt genug, die Stimme zu erheben. Mir fällt auch die Parallele auf, dass das politische Kabarett (fast) durchgehend schlechter, private Witze (vulgo Memes) hingegen besser werden.

Die Gesetze haben Löcher in Tunnelgröße. Die Fähigkeit der Bürger sich vor dem Zugriff des Staates zu schützen, schwindet oder ist mit großen Kosten und Risiken verbunden. Die Polizei, der Freund und Helfer, verhängt Bußgelder auf Basis windiger Verordnungen und die Justiz – welche erfreulicherweise viele dieser Verordnungen regelmäßig in der Luft zerreißt – kommt zeitlich mit dem Scherben auflesen kaum hinterher. Und spätestens hier enden auch die Parallelen zur DDR, denn dort war der Rechtsweg gegen Beschlüsse der Regierung höchstens eine Illusion, an die ohnehin niemand glaubte. Jedem war klar, dass diesem Gegner nicht mit Rechtsmitteln beizukommen war, sonst hätte es 1989 ja auch keiner Revolution bedurft.

All die Maßnahmen und Anmaßungen von heute stehen jedoch immer unter dem Vorbehalt, dass sich eines Tages, vielleicht auch schon heute oder morgen, Gerichte damit befassen werden und die Frage nach Verantwortung und Schuld gestellt wird. Dafür braucht es im Unterschied zu 1989 nicht mal einen System- oder Regierungswechsel. Dieses Gefühl, Entscheidung auf rechtlich höchst unsicherem Terrain zu treffen, merkt man ihnen an, den Seehofers, Spahns, Laschets, Söders und Merkels. Es macht sie nervös, aber auch unberechenbar, wie man an all den widersprüchlichen Beschlüssen erkennen kann, die sie verkünden, verwerfen, wieder einführen und erneut verwerfen.

Die Bürger gewöhnen sich indes an die Bedrohung. Nicht nur an die durch das Virus, sondern auch an jene durch die erratischen Regierungsmaßnahmen. Und sie unterlaufen sie in Scharen, was die Kosten der Rechtsdurchsetzung erhöht und Merkmale hervorbringt, die wir nur aus Polizeistaaten kennen. Auch die mediale Betrachtung, die damals wie heute ein Urteil vorwegnimmt, ist vergleichbar. Denn „Grenzverletzungen“ waren der „Aktuelle Kamera“ damals genauso empört-herablassende Berichte wert wie der „Tagesschau“ heute die Verletzung von Ausgangssperren, Zugangsbeschränkungen und Hygienegrenzen. Noch hat die Macht die Oberhand, wie folgendes Beispiel zeigt.

Usedom, 2021

„Behörden holen illegale Urlauber aus Ferienwohnungen“ titelt das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Bereits in der einführenden Zusammenfassung erfährt der Leser, dass es „einige Touristen [trotz des Verbotes] an Ostern dennoch auf die Insel schafften.“ Das muss man sich wohl ähnlich konspirativ vorstellen wie sich einst die Männer des Odysseus unter Widderbäuchen und in deren Wolle gekrallt aus der Höhle des Polyphem stahlen. Doch die Usedom-Urlauber stahlen sich nicht aus der Höhle, sondern schmuggelten sich hinein. Und der dort wohnende Zyklop war nicht blind, sondern offenbar sehr wachsam. Der RND-Leser erfährt: „Hinweise auf illegale Urlauber kamen oft von Anwohnern“. Poseidons Inselparadies empfiehlt sich damit für Post-Corona-Zeiten nachdrücklich als herzlicher und vertrauenswürdiger Gastgeber: Unsere Insel bleibt sauber, illegale Urlauber werden nicht geduldet!

„Auf der Insel Usedom mussten an Ostern mehrere illegal eingereiste Urlauber wieder ihre Koffer packen und die Heimreise antreten“ wird berichtet. Camper, die in ihren Wohnmobilen am Straßenrand parkten, auch „illegale Mieter“ von Ferienwohnungen (bekanntlich die schlimmsten Hot-Spots von allen) wurden „entdeckt“. Nachbarn und Augenzeugen sind dem Ordnungsamt gern behilflich, das Telefon der Behörde klingelt regelmäßig. Unter dem Motto „Wenn ich keinen Urlaub habe, soll niemand welchen genießen, wenn ich nicht vermieten kann, soll niemand verdienen, wenn ich mich an die Verordnung halte, müssen andere noch mehr als ich darunter leiden“ ist eine Olympiade der Denunziation eröffnet. Freiwillig!

Konnte man damals nicht wissen, ob unter den Freunden, die mit dir lachten, scherzten und Honneckerwitze erzählten, ein Zuträger der Stasi war, kann man sich heute nicht sicher sein, ob der Nachbar, der Bürgermeister oder der Typ von gegenüber, der gerade eingezogen ist und den in der Straße niemand kennt, bei erster Gelegenheit zum Telefon greifen wird. Der Vorfall auf Usedom erinnerte mich an ein Ereignis, welches im Jahr 1987 ebenfalls an der Ostseeküste stattfand.

Rostock, 1987

Es herrschte Aufenthaltsbeschränkung. Nicht so rigoros wie heute und auch nur für eine bestimmte Personengruppe: Soldaten im Heimaturlaub. Wer das Pech hatte, in der NVA dienen zu müssen, kann sich vielleicht noch daran erinnern, dass man aus den Kasernen nur sehr schwer wieder herauskam. Urlaub von der Truppe war nicht gern gesehen und wurde nur sparsam gewährt. Man begründete dies mit der notwendig hohen „Einsatzbereitschaft“ – ein Angriff der fußmüden Bundeswehr stand wohl unmittelbar bevor – und der Sozialismus wollte „im Verteidigungsfall“ schnell Zugriff auf alle Soldaten haben. Deshalb wollte die Armee immer wissen, wo sie ihre urlaubenden Soldaten bei Bedarf abholen konnte. Wollte der Kommandeur dem Soldaten einen besonderen „Dienst“ erweisen, beschränkte er den Kurzurlaub des Soldaten deshalb auf den Heimatort oder einen kleinen Umkreis. Die DDR konnte folglich oft noch viel kleiner werden, als sie es ohnehin schon war.

Mein Freund T. wohnte in Magdeburg und bekam als Soldat fast immer nur „Urlaub mit beschränktem Aufenthaltsort“. Mit Freunden in Rostock oder anderswo aufzutauchen konnte ernste Konsequenzen nach sich ziehen, sollte er von der Militärpolizei aufgegriffen werden. Diese „Greifer“ waren, soweit ich mich erinnere, immer zu zweit unterwegs und waren an ihren weißen Gürteln und Schulterriemen gut zu erkennen. Besonders gern suchten sie in Restaurants und an Bahnhöfen nach Soldaten in Zivil, die dort weder in Zivil noch überhaupt sein durften. Da galt es, vorbereitet zu sein und die Lokalität vorher auf Fluchtmöglichkeiten zu untersuchen. Ein Hinterausgang durch die Küche oder ein offenes Fenster in der Toilette können von Nutzen sein. Das klärt man zuerst ab, wenn man das Lokal betritt. Hat man die Wahl des Tisches, dann nimmt man einen möglichst weit weg vom Eingang und nahe am Fluchtweg. Unser geliehener Wartburg (verdächtiges Nummernschild aus einem anderen Bezirk) parkten wir stets einige Straßen weiter und behielten beim Essen immer die Tür des Restaurants im Auge. An diesem Tag des Jahres 1987 in einem recht schäbigen Lokal in Rostock musste sich unser ausgefeilter Fluchtplan erstmals in der Praxis beweisen. Es funktionierte. Nie wurde T. dabei erwischt, wie er seine Urlaubsbeschränkungen unterlief. Und da der Angriff der Bundeswehr überraschend ausgeblieben war, musste man auch nie nach ihm suchen.

Vom unsichtbar werden

Die Fähigkeit, sich unauffällig zu verdrücken, war generell gut entwickelt in der DDR. Man brauchte sie bei „freiwilligen“ Arbeitseinsätzen, an Wahltagen, bei Demos „Für Frieden und Sozialismus“ am ersten Mai, um einen Sack Zement vom Volkseigentum in Privateigentum zu überführen oder um Kontrollen zu entgehen. Wir waren – von spektakulären Ausnahmen abgesehen – ein Volk von Hobbits, deren Instinkt ihnen gebot, möglichst nicht vom Auge Mordors erfasst zu werden. Lange hatten wir die direkte Konfrontation gemieden, das Leben fand in unseren Höhlen statt, wohin das Auge nicht reichte. Die eingeübte Tarnung und die Grabesstille hielt die Staatsmacht schließlich für Zustimmung. Ein Fehler, wie sich zeigte.

Die Gegenmaßnahmen, welche heute privatim unternommen werden, um die Corona-Maßnahmen der Regierung zu unterlaufen, werden besser, je länger der Lockdown andauert. Auch der Mut steigt, sich den oft jeder Vernunft widersprechenden Regeln zu widersetzen. Er wird weiter steigen, zusammen mit der Verzweiflung. Das Leben findet immer einen Weg, es lässt sich nicht mit fragwürdigen Verordnungen einschränken, begrenzen und zur unendlichen Geduld zwingen. Man kann einige für lange Zeit oder alle für kurze Zeit einsperren, aber nicht alle für lange Zeit. Es muss ja nicht immer 40 Jahre dauern, bis eine Regierung dies begreift.

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6 Kommentare

  1. Eigentlich gespenstisch, was Sie schreiben. Aber realistisch. Und so vermutet der mündige Bürger: Die ganzen Parallelen- damals eine moralbesoffene Diktatur, heute eine nicht minder moralbesoffene „parlamentarische“ Demokratie – nährten sich aus Ängsten. Damals die Phantasmagorie, „der kapitalistische Klassenfeind“ könnte einmarschieren und heute die „Corona-Toten“ (zwar weit unter der Wahrnehmungsschwelle, da keine Übersterblichkeit signifikanten Ausmaßes erkennbar ist, aber medial omnipräsent) stapelten sich in den Gängen der Intensivstationen, eben diese Ängste führen zu so deformierten Realitätswahrnehmungen. Übrigens: Volle Zustimmung zu Ihrer Laudatio für Klonovsky. Eine Perle in unseren Tagen. Jedoch, so wie ich Klonovsky einschätze (Schätzen kann fehlen) würde er Ihnen als dem Hervorbringer einer Formulierung wie dieser: „Man streicht den Mangel heute nicht bunt an und leugnet ihn wie in der DDR, man feiert ihn, heißt ihn willkommen, muss ihn erst mühsam herbei misswirtschaften …“ ebenfalls höchsten Respekt zollen.

  2. Das ist die Frage: Wird der Widerstand gegen die irrsinnigen Maßnahmen besser und somit erfolgreicher? Oder genau das Gegenteil, stumpfen die Leute ab und nehmen immer mehr Unsinn in Kauf? Oder vielleicht beides …?

  3. Herr Letsch, wir sollten Sie zum Kopf in der Bewegung GEGEN IM MOMENT EIGENTLICH ALLES machen. Unsere Zeit braucht mehr den je einen geistigen Notausgang und Ihre höchst amüsanten Artikel führen genau dorthin. Danke!

  4. ….Das Flüstern ist wieder da, die vorgehaltene Hand……….
    Zwei Meinungen- eine für zu Hause, eine für die Schule o.ä. Das war die reale sozialistische Dauererfahrung als Kind. Zum Heucheln und Lügen Erzogen von Staats wegen.
    Nach der Wende (1991 ff., in einer -Firma in NRW) war es eine unglaubliche Erfahrung, daß man z.B. unter Kollegen ALLES reden konnte- ohne darauf achten zu müssen, wer am Tisch saß. Kam bei mir häufig vor- Montage- da aß man abends in Hotel oder Kneipe zusammen. Lang lang ists her.
    Spätestens eine „Handlungshilfe“ vom ver.di-Landesbezirk Niedersachsen zeigte, daß diese eit vorbei ist. Wer heute noch nicht kurz vor der Rente steht, kann sich eine eigene Meinung nicht mehr leisten. Mit z.B. Kindern in Ausbildung usw. schon gar nicht. Traurig. Wenn Herr Maaßen, der die Wahrheit gessagt hat und eine bekannte Persönlichkeit war (ist), fliegt, wie ergeht es dann einem Nobody?!

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