Die FAZ weigerte sich bekanntlich und überraschend, Böhmermanns ausgedruckter Internetblase die bestellte Aufmerksamkeit zu widmen. Bei „Titel, Thesen, Temperamente“ von der öffentlich-rechtlichen Einheitsfront hatte er natürlich mehr Glück. In einem fünfminütigen Videobeitrag hatte er reichlich Gelegenheit, sein Weltbild auf die Netzhaut der Zuschauer zu projizieren, was ttt später für ein Facebook-Meme inhaltlich so zusammenfasste: „Durch das Buch zieht sich eine politische Forderung: Google verstaatlichen, Facebook enteignen und Twitter regulieren. Das muss alles veregmeinschaftet werden. Das ist systemrelevante Infrastruktur, genauso wie im 19. Jahrhundert die Eisenbahnen, wie irgendwann Telefon oder Fernsehen. Das kann man eines Tages wieder privatisieren. Aber zunächst muss es vergemeinschaftet werden. Es geht gar nicht anders. Es ist zu wichtig.“

Vergemeinschaftung sagt er, Verstaatlichung und Enteignung meint er, Zensur hat er im Sinn. Denn vergemeinschaftet sind Google oder Facebook längst. Im soziologischen Sinn des Begriffs über das Zugehörigkeitsgefühl der Nutzer, auch wenn das nicht besonders ausgeprägt ist oder auf unbedingter Gegenseitigkeit beruht. Als Rechtsbegriff bilden die Eigentümer der Netze ebenfalls eine Gemeinschaft. Wer also an der „Gemeinschaft“ mit Google partizipieren will, kann den Dienst einfach nutzen oder Alphabet-Aktien erwerben. Anderen diese Aktien via Verstaatlichung abzuknöpfen, fällt wohl eher in die Kategorie „Gemeinheit“.

Nein, Vergemeinschaftung ist nicht Böhmermanns Ziel – es muss schon Verstaatlichung sein. Selbst wenn dieses Ziel bei ihm in seltsamem Kontrast zu Aussagen wie „Twitter ist Literatur“ steht – soll Literatur etwa auch verstaatlicht…? Ich ziehe die Frage zurück. In einem Land, dessen Regierungschefin Bücher nach „hilfreich“ und „nicht hilfreich“ sortiert, Stände auf Buchmessen unter dem Motto „geschieht denen doch recht“ verwüstet werden und Literaturfestivals Künstler ausladen, weil man nicht für ihre Sicherheit sorgen könne… in einem solchen Land darf man schon vom Trend zur verstaatlichten Literatur sprechen. Böhmermanns Twitter-Literatur in Form des aktuellen Buches ist offenkundig nicht in Gefahr, unter die Räder des Zeitgeistes zu kommen. Die sitzt schließlich auf dem Kutschbock der Systemrelevanz, ach, was sage ich – dem Dach der Systemdefinition!

Seltsam ist, dass Böhmermann die sozialen Medien zwar zur systemrelevanten Infrastruktur erklärt, obwohl dort nach seiner Aussage „vor allem rechtsextreme Misanthropen“ das sagen hätten. Was ist dann systemrelevant an diesen Netzen? Das staatliche Netz, das Böhmermann vorschwebt, unterschiede sich offenbar inhaltlich und im Reglement erheblich von dem, was private Unternehmen wie Facebook, Twitter oder Google heute mit Hilfe staatlich beauftragter aber privater Überwachung auf die Beine stellen.

Wir verstaatlichen jetzt Facebook und Twitter

Vergessen wir für einen Moment, wie Böhmermann sich die Verstaatlichung amerikanischer Firmen in Deutschland oder Europa rechtlich und praktisch vorstellt. Vielleicht können wir die Gorch Fock mit einem Ultimatum den Potomac hinaufschicken? Wir unterstellen also mal Einvernehmen: Facebook und Twitter verkaufen in unserem Planspiel einfach ihre „europäischen Netze“ (also die Daten der User) für einen Batzen Steuerzahlergold an das Kanzleramt oder besser gleich die EU-Kommission und die startet dann ein politisch glattgefeiltes EU-Book und Europagezwitscher.

Als Leitspruch über der politisch regulierten Kommunikationsbude könnten wir einen Leserkommentar unter dem ttt-Facebookpost verwenden: „Die Tools [soziale Netzwerke, Anm. d. A.] die da geschaffen wurden sind schlicht zu mächtig und müssen reguliert werden… Radikal reguliert. Bis wir das Monster soweit an die Kette gelegt haben, dass es uns dient.“

Wem „dient“? Zu welchem Zweck „dient“? Wer in dieser Gleichung ist „uns“ und wer darf eigentlich die Kette halten? Gibt es politische Mandate, die wir zur Überwachung und Kontrolle unserer privaten Kommunikation ausgestellt haben? Wer auf solche Fragen Antworten verlangt, wäre noch vor zehn Jahren einfach nur Journalist gewesen. Heute machte man sich dadurch sofort der Staats- und Europafeindlichkeit verdächtig und wird sicher von internationalen Großkonzernen, Trump und Putin bezahlt.

Dabei sehe ich durchaus, dass sich die großen Netzwerke zu Monstern entwickelt haben, seit sie ihre Wettbewerber abschütteln konnten. Nur sehe ich keinen Vorteil darin, die Kontrolle dieser Monster in die Hände des Staates oder der EU, also in die Hände noch größerer und noch mächtigerer Monster zu legen, die uns noch dazu das Geld für ihre „Dienstleistungen“ einfach aus der Tasche ziehen können.

Glaubt jemand ernsthaft, dass ein „EU-Facebook“, dessen Betreiber vor allem an der Vermeidung von Widerspruch, Diskurs und Konflikt und dem Jubel über seine politische Agenda interessiert wäre, der Versuchung widerstehen könnte, seine Ziele durch Kontrolle, Sanktionen und Nudging durchzusetzen? Wer sollte sie davon abhalten? Dabei muss man gar nicht unterstellen, man plane solche Missbräuche ganz konkret. Das man die institutionellen Voraussetzungen dafür schaffen würde, genügt. Der Missbrauch kommt dann irgendwann von ganz allein. Das Netz, das aus solchen Regeln resultierte, wäre nicht mehr ein Werkzeug individueller Kommunikation, sondern der innenpolitischer Disziplinierung und Gleichschaltung. Dass Jan Böhmermann das gefällt, kann ich mir gut vorstellen. Schließlich glaubt er zu wissen, dass es am besten für uns wäre, wenn wir so dächten wie er.

Der Staat an seinen Grenzen

Der Trend, immer weitere ehemals individuelle Verantwortung an den Staat zu delegieren – meist reißt dieser die Verantwortung auch einfach an sich – hält unvermindert an. Zuletzt wurde die persönliche Verantwortung für Leib und Leben verstaatlicht, indem jeder Mensch zum potenzielles Infektionsrisiko und somit asozialen Subjekt erklärt wurde, dem man Mores lehren und vor dem man die Allgemeinheit schützen muss.

Jede neue Kompetenz ist ein weiteres Pferd am Zügel und macht die „Kutsche“ Staat schwerfälliger und anfälliger für Fehler. Die vielen Pferde können nur noch grob geradeaus laufen, wenn sie den Befehl des Kutschers auf dem Rücken spüren. Der Kutscher hat mittlerweile so viele Leinen in der Hand, dass er mit der Steuerung seines Gespanns völlig überfordert ist. Dieser „Kutscher“ baut heute Flughäfen, die nicht ans Fliegen kommen, kümmert sich um eine Corona-App, die zu nichts nutze ist, organisiert Probe-Alarme, die nicht alarmieren und lässt sich von NGOs aller Couleur die Peitsche aus der Hand nehmen.

Die Kernaufgaben des Staates, zu denen zum Beispiel auch eine konsistente, verlässliche Außenpolitik gehört, werden hingegen vernachlässigt. Ist ja nur ein Pferd! Von den aktuellen Friedensverhandlungen der Golfstaaten mit Israel hat unser Außenminister wohl zuerst aus der Zeitung erfahren, während sein Parteigenosse Ralf Stegner die Verträge zur Schande der SPD sogar „fragwürdige Beiträge Trumps zur Nahostpolitik“ nannte. Es wurden schon Botschafter für weniger einbestellt.

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Verstaatlichung und Privatisierung auf Deutsch

Natürlich gäbe es noch einen anderen Weg als den, Bestehendes zu zerschlagen, um einen verstaatlichten Neuanfang für Soziale Medien zu unternehmen: Marktwirtschaft! Was hindert den Böhmermannstaat, in Konkurrenz zu Facebook oder Twitter zu treten? Glaubt man Böhmermann, müsste doch eine breite, schweigende Mehrheit der Menschen in diesem Land geradezu gierig darauf sein, den rechten Echokammern Twitter und Facebook zu entfliehen, um sich staatlich kontrolliert, überwacht und in politisch gleichmäßig gefärbte Watte gepackt zu vernetzen – mit Böhmermann als Netzkönig Jan I.

Das Gegenteil ist der Fall. Sieht man von isolationistischen Lösungen wie dem nordkoreanischen „Intranet“ oder den stark staatlich kontrollierten chinesischen Netzen „Wechat“ oder „Tencent“ ab, geht vielen Nutzern die von staatlichen Stellen ins System getragene Zensur bei Facebook oder Twitter schon viel zu weit. Ihre Antwort auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit und „Cancel Culture“ lautet „mehr Meinungsfreiheit“ – viele wandern deshalb zu alternativen Diensten ab, bilden Mailgruppen oder nutzen Messanger-Dienste. Am Tag der Inbetriebnahme eines Staats-Facebook würde ich eine Brieftaubenzucht starten.

Kommunikation, die nicht in der gewohnten Öffentlichkeit stattfindet, unterbleibt nicht. Sie findet nur dort statt, wo weder Böhmermann noch der Staat etwas davon mitbekommen.

Doch Staaten stellen sich dieser Art von Wettbewerb ohnehin nicht. Wo sich der Staat in privatwirtschaftlichem Terrain bewegt, versucht er stets, Wettbewerb zu vermeiden oder auszuschalten, weil er glaubt, es ohnehin besser zu können. Das quasi Monopol, das sich bei den sozialen Netzen gebildet hat, ist schon eine üble Sache. Noch übler wäre es allerdings, nähme sich der Staat nach Böhmermann’scher Fasson der Sache an.

Die von ihm genannten Beispiele Eisenbahn, Telefon und Fernsehen zeigen zudem, dass er nicht weiß, wovon er redet. Denn im besten Deutschland, das wir je hatten, geht traditionell beides schief: das Verstaatlichen wie das Privatisieren. Die Bahn – ein Staatsbetrieb der hochsubventionierten Sorte – bliebe auch nach dem auf den Sankt Nimmerleinstag verschobenen Börsengang Monopolist der Schiene, wo echter Wettbewerb eher marktwirtschaftliches Dekor ist.

Dabei muss staatliches Engagement nicht zwangsläufig in die Bahn-Katastrophe münden, wie das Beispiel Schweiz zeigt. Ein Blick nach Japan zeigt andererseits, dass die tatsächliche Privatisierung staatlicher Bahnunternehmen auch erfolgreich sein kann. Von beiden Standpunkten aus betrachtet gibt unsere Bahn somit kein gutes Beispiel ab. Dass Böhmermann es trotzdem verwendet, zeigt seine Ahnungslosigkeit.

Selbiges gilt für die Privatisierung der Telekom, der man das wichtige Netzmonopol und damit den entscheidenden Wettbewerbshebel ließ, was uns im Ausbau der Breitband- und Funknetze Lücken und Funklöcher und in Sachen Geschwindigkeit einen hinteren Platz in der EU einbrachte. Über die unschöne Dominanz des ÖRR über die privaten Fernsehsender möchte ich hier gar nicht erst sprechen, erwähnt sei stattdessen der aus vier Anbietern mit Gebietsschutz bestehende privatisierte „Markt“ deutscher Hochspannungsnetzbetreiber (Tennet, ampirion, TransnetBW und 50Herz), was praktisch jeden Wettbewerb ausschließt.

Nein, so etwas will ich auf keinen Fall auch noch bei den sozialen Netzen sehen. Dein Regierungs-VZ kannst Du behalten, Böhmermann.

Recht statt Regulierung

Doch zurück zu den Problemen von Facebook, Twitter und Kollegen. Statt hier von Interventionismus und einem staatlichen Kombinat „VEB Propaganda und Schwatz“ zu träumen und Hand an Technologie zu legen, zu deren Entwicklung man selbst nicht in der Lage ist, würde es für den Anfang genügen, die rechtliche Stellung der Nutzer bestehender Netze zu stärken. Durch spezialisierte, personell gut ausgestattete Gerichte beispielsweise, die jeder anrufen kann, wo wirklich strafbare Inhalte in fairen Verfahren genauso sicher erkannt und geahndet werden wie unberechtigte Löschungen oder Sperrungen.

Auch wäre es leicht, Regeln zu definieren, die für Behörden, Politiker, Parteien, NGOs und Privatpersonen gleichermaßen gelten – auch was den Klageweg einschließt. Es darf nicht sein, dass Personen wie Kaddor oder Chebli mit ihren persönlichen Netz-Befindlichkeiten die Staatsanwaltschaften beschäftigen dürfen, während jeder andere User, ganz gleich ob er beleidigt, bedroht, gemobbt, verleumdet oder gesperrt wurde, den Weg der Zivilklage gehen muss. Wie wäre es, wenn wir erst mal damit anfangen? Danach bauen wir dann ein Netz für Jan Böhmermann, wo er niemandem folgen muss, dem jemandem folgt, den er blockiert hat.

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