Das Bonmot, dass zwar schon alles gesagt sei, aber noch nicht von allen, wird bekanntlich Konrad Adenauer zugeschrieben, ist also schon etwas älter. Was in der Nachkriegszeit die Arbeitsweise der auf Konsens bedachten Parteistrukturen gut beschrieb, gilt heute in noch stärkerem Maße für die erste Ableitung der Politik, die sogenannte Zivilgesellschaft. In der ordnen sich alimentierte Partikularinteressen entlang weniger als progressiv betrachteter Großthemen. Und seit die Angst vor der übermorgigen Erdverkochung der sehr viel dringenderen Sorge um die nackte ökonomische Existenz weichen musste, ist es heute vor allem noch der „Kampf gegen rechts“, der Gleichschritt erzwingt. Es herrscht Bekenntniszwang, ganz gleich, wie abseitig oder irrelevant die zur Schau gestellte Empörung auch sei. Mit Leichtigkeit findet man Tausende Vereine, Bündnisse und Stiftungen, die schon im Namen das Versprechen tragen: Wir sind sauber, hier gibt es keine Rechten, hier brennt die Flamme der linken Revolution hell und heiß.
Jede Stadt hat mittlerweile ein „Bündnis gegen rechts“, und zählt man jene Vereinigungen hinzu, die Christen, Eltern, Handwerker, Künstler, Fußballfans, Juristen und Omas im Namen führen, beträgt die Schnittmenge dieses jakobinischen Furors längst 100 Prozent. In Deutschland, dem Land der Drachentöter, gibt es nur Siegfrieds. Wie der französische Jakobiner seinen Adeligen, so erkennt der Gegen-rechts-Kämpfer der Neuzeit seinen Rechten an der Gesinnung, die er ihm unterstellt, und den Mitteln, die er gezwungen ist, gegen ihn einzusetzen. Und weil dieser Kampf damals wie heute gut und der Regierung angenehm ist, duldet man seine gewalttätigen Auswüchse wie seine dialektischen Kurzschlüsse. Wie anders als mit einem solchen Kurzschluss ließe sich die Benennung des Bündnisses „Krüppel gegen rechts“ erklären?
Man reibt sich die Augen, wenn man Folgendes liest: „Selbstbewusst eignen sich die Behinderten ein Schimpfwort an, um damit offensiv gegen ihre Abwertung einzutreten“. Erinnert sich noch jemand, dass selbst auf dem Wort „behindert“ als Ersatz für das grob abwertende „Krüppel“ heute ein Sprachtabu liegt? Jetzt also gleich noch ein paar Schritte weiter zurück? Die „Rechten“, so der Vorwurf des Bündnisses mit dem deftigen Namen, seien gegen Inklusion und wollten „Behinderte verschwinden lassen“. Gegen diese neue Menschenverachtung setze man sich eben zur Wehr. Doch schaut man sich an, wie ausgerechnet das Großprojekt Inklusion mit all seinen woken dieselben Ungleichheiten zwischen Menschen mit und ohne Handicap, die sich aus der Realität ergeben – mit dem einen Unterschied, dass heute die Worte nicht mehr zu Gebote stehen, sie zu beschreiben, und eine Menge Trittbrettfahrer mit zweifelhaften Absichten vor den zur Sprachlosigkeit verdonnerten Bürgern auftauchen. Das Selbstbestimmungsgesetz mit seinen Mann/Frau-Verwirrungen ist ein Kind dieser Inklusions-Utopie, die aus Sprache Realität schaffen will.
Aber die Realität weigert sich hartnäckig, sich einer politischen Definition anzupassen. Es ist also nicht die Systemkritik von rechts an der heiligen Kuh „Inklusion“, die Menschen mit Behinderung aus dem Gesellschaftsbild verschwinden lässt, sondern der Versuch, sie durch Worttabus aus der Umgangssprache zu streichen. Die „Rechten“, gegen welche die selbst bezeichneten „Krüppel“ zu kämpfen vorgeben, haben diesen Unsinn nicht begonnen, das waren die auf Gleichschaltung, Bekenntnis und Opferstatus versessenen Linken. Womit wir bei der politischen Dimension von Sprachtabus und dem so genannten Reclaiming von Begriffen angelangt sind. Denn nichts immunisiert und privilegiert zuverlässiger als die Legitimation, ein Wort selbst zu benutzen und anderen dessen Verwendung unter Androhung moralischer Ächtung zu untersagen.
Das Wort „Krüppel“ ist – außer im Zusammenhang mit einer Bergkiefernart – nicht zu Unrecht aus unserem Sprachgebrauch verschwunden. Und zwar ganz ohne politische Gewaltandrohung, sondern als eine der vielen Firnisschichten der Zivilisiertheit, die sich ihrer moralischen Wurzeln bewusst ist, keine tribalen Konflikte mehr kennt und dank des erarbeiteten Wohlstands ohne fundamentale ökonomische Verteilungskämpfe auskommt. Noch! Die Gefahr für viele, ob sie sich nun herausgefordert, behindert oder kämpferisch-aktivistisch Krüppel nennen, kommt nicht von rechts, sondern von ökonomischen Tatsachen, die durch falsche politische Entscheidungen geschaffen wurden. Und die lassen sich durch Worte nicht verdecken oder ungeschehen machen. Doch da in diesem drachenarmen Land der Drachentöter nichts so billig zu haben ist wie gleichgeschalteter politischer Aktivismus, werden wir wohl noch viele solcher dialektischen Entgleisungen sehen. Ich rechne ja fest mit der baldigen Gründung der „Zigeuner gegen rechts“!