„Wir schaffen das“ – drei Worte von Bundeskanzlerin Angela Merkel und eine ganze Dekade der Konsequenzen. Gelegenheit für die Narrativmaschine ZDF, diesen drei Worten ein dokumentarisches Denkmal zu setzen, die Leute „da draußen“ zu befragen und aus deren episodischen Schilderungen ein Fazit zu ziehen. Um es vorwegzunehmen: Die Sendung krankt am selben Präzisionsmangel wie Merkels damalige Rede. Im Leben wie im ZDF verschwimmen alle Ereignisse zu einem unbestimmten Gefühl – Asyl, Flucht, Migration, alles dasselbe. Die schönen Bilder, die guten Absichten, die schlechten Ergebnisse, und am Ende steht im Zeugnis, „wir“ haben uns bemüht. Und weil sehr viele so viel Zeit, Geld und Energie in dieses Bemühen versenkt haben, fällt Selbstkritik schwer. Aber bleiben wir im Film und in der episodischen Evidenz. Denn was wir zu sehen bekommen, sind lauter nette Leute. Die Helfer sind hilfsbereit, die Migranten der ersten Stunde perfekt integriert oder doch zumindest freundlich oder reumütig. Ist „es“ doch geschafft? Im Film lernen wir Niro kennen, der uns im schönsten Fränkisch erklärt, warum er seinen Vornamen Mohammed abgelegt, sein pädagogisches Staatsexamen gemacht hat und nun Deutsch und Musik unterrichtet. Doch auch wenn er das als Ergebnis der Hilfe vieler freundlicher Menschen darstellt, wurde ihm das alles nicht wirklich geschenkt.
Talent und der Wille, sich anzupassen, dürften die größere Rolle gespielt haben. Menschen wie Niro waren einst Regelfall für legale Migration: selektiv, eigenverantwortlich, ohne Willkommenskomitees am Bahnhof, getrennt vom nur temporären Asyl. Für das „Wir schaffen das“ aus dem Jahr 2015 galten diese Regeln nicht. Vielleicht ist ja der freundliche Haytam aus Salzgitter mit seinem Klamottenladen repräsentativer. Er hat keine Probleme mit der deutschen Sprache, weil er sie im Alltag kaum braucht. Alles um ihn herum ist arabisiert, die Freunde, die Nachbarn, Beamte. Er kam 2015 von Syrien nach Deutschland, weil er zwei pflegebedürftige Töchter hat. Aber die arabische Kultur sei besser, und die findet er ja nun auch in Salzgitter vor. Nein, gut integriert sei er nicht, und die in seinen Augen schlechtere deutsche Kultur lächelt zurück und pflegt seine Töchter. Merkels Paladine, die ihr „Wir schaffen das“ mit Hoffnung ausschmückten und von Wirtschaftswachstum und künftigen Rentenzahlern sprachen, lagen offensichtlich falsch. Später bei Haytham zu Hause – Frau und Töchter sind nicht da, der Abend gehört traditionell den Männern – spricht ZDF-Moderatorin Sarah Tacke den Satz, der als sarkastisches Motto über der ganzen Episode stehen könnte: „Ich versteh’ kein Wort, aber es ist sehr lustig.“
Eine verschworene Gemeinschaft hat sich da zum Kartenspiel versammelt. Man spricht Arabisch und plaudert. Man hat einander, wozu also Integration? Man kannte sich zwar früher in der Heimat nicht, doch Mahmud erklärt: Beim Sprachkurs, in der Schule, im Integrationskurs, dort haben wir uns kennengelernt. Die Umstände fördern also die Bildung von Parallelgesellschaften, statt diese durch Integration zu verhindern. Das haben wir also geschafft. Die Jubelmeldungen sind leise geworden, aber es gibt sie auch im Film noch. Etwa aus einer Dresdner Kita. Sechzehn Kinder mit sieben Muttersprachen, fünf Betreuer sitzen mit ihnen im Kreis, Zeichensprache. In der Gruppe dürfte der Turmbau zu Babel auch mit Legosteinen zum Problem werden. „Wir versuchen unseren Wortschatz stark zu reduzieren“, berichtet Kita-Leiterin Neudecker. Erzieher, Sonderpädagogen, Sprachpädagogen, Dolmetscher für die Eltern – der Personalschlüssel ist gewaltig und die Bemühungen sicher aller Ehren wert. Doch wenn die Kinder die Kita verlassen, sprechen sie dennoch kein Deutsch. Woran es fehlt? „Wir bräuchten mehr Kinder, die Deutsch sprechen“, so Neudecker.
Zu wenig Muttersprachler! Das Argument der Zahl ist wieder da, als Menetekel an die Wand der Realität geworfen. Doch weil die Deutschen nicht auf Bäumen wachsen, fordert man mehr Geld, das nicht da ist, mehr Unterstützung, die nicht kommt, mehr Infrastruktur, die keiner bezahlen kann. Dem „Wir schaffen das“ gehen die deutschen Muttersprachler aus – was für ein Fazit! Welches „es“ also am Ende des Schaffens steht, ist ungewiss. Was sonst noch? Der Regensburger Hauptbahnhof verzeichnet 165 Prozent mehr Kriminalität und darf sich „gefährdetes Objekt“ nennen, was der Polizei mehr Kompetenzen gibt, berichtet das ZDF. Womit wir bei den Besuchen wären, die man für den Film nicht machte. In Mannheim, Aschaffenburg oder Berlin, bei den Überlebenden der Attentate auf Weihnachtsmärkte, bei den Hinterbliebenen der Messermorde, den Traumatisierten der Massenvergewaltigungen oder Maria Ladenburgers Angehörigen. Im Frauen-Nachttaxi von Tatort zu Tatort zu doppelt gesicherten Volksfesten mit Security und Anti-Terrorpollern – das wäre mal eine „Wir schaffen das“-Doku! Der nette Niro mit seinem fränkischen Akzent hat aus heutiger Sicht recht: Sicherheit ist ein Privileg! Vor zehn Jahren war sie noch eine Gewissheit.
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Kommentar bei KONTRAFUNK aktuell
ZDF, Am Puls mit Sarah Tacke – Flucht und Krise – 10 Jahre „Wir schaffen das“
Was soll ich noch sagen? Alles gesagt, alles geschrieben. Dieses Land macht seit Jahrzehnten, oder sind es Jahrhunderte, Fehler und lernt nichts daraus. Ja, ich weiß, die preußische Schulreform und der Wissenschaftsbetrieb im 19. Jahrhundert waren vorbildlich. Aber man kann sich nicht ewig darauf ausruhen. Alles ist festgefahren hier, kaum etwas Großes bewegt sich noch und hat seinen Ursprung hier. Elite ist verpönt, man hat sich am Mittelmaß zu orientieren. Das ist der Kern des Sozialdemokratischen Zeitalters und der Totengräber des Fortschritts. Man nennt es hierzulande Soziale Marktwirtschaft. Eine tolle Geschichte wenn die Zeiten einfach sind, wie nach dem zweiten Weltkrieg, der Stunde Null. Die Amerikaner, die ich kenne nennen es Sozialismus, ja Kommunismus. Und damit kommt man nirgendwohin, höchstens ins Armenhaus.
Das war ein verdammt erschöpfendes Jahrzehnt verlorene Lebenszeit. Flucht, Exil und Migration sind immer noch nicht rechtlich getrennt und als komplett unterschiedliche Vorgänge adressiert. Noch immer gibt es keine vertrauenswürdigen Abläufe zur Zurückführung der Flüchtlinge zu einem frühst möglichen Zeitpunkt, der Neuaufnahmen im Ernstfall vertretbar machen. Noch immer bekommt jeder universellen Zugriff auf unser Justizsystem und darf sich ewig durch alle Instanzen klagen. Noch immer hat sich keiner der hohen Vertreter von Kirchen, Medien und Parlamenten bei den Bürgern für den verlogenen Jeder-ist-ein-Nazi-Wahn entschuldigt. Noch immer wird Überwachung, Bespitzelung und Mobbing hochgefahren, statt zurückgenommen.
Ich kann eigentlich nichts geistreiches mehr sagen. Zu müde.
Wir sind längst an dem Punkt angekommen, an dem wir mehr brauchen als die alt-bekannte Rezepte. Auch eine AfD, die mords stolz darauf ist, nur alte CDU-Beschlusslagen blind durchdrücken zu wollen, wird’s nicht reißen.
Niro ist sicher ein toller Typ, aber wir sind doch längst an dem Punkt, an dem wir die Deutsch- und Musiklehrerausbildung hinterfragen müssten. Ich mach mir mal wieder Feinde. Ein Deutschlehrer hat Diktate zu üben und braucht dazu die Kompetenz, ablesen zu können. In der römischen Antike lief die gesamte Schule so. Ja, natürlich ist es besser, wenn er hie und da etwas erklärt, korrigiert und systematisch unterrichtet. Aber eigentlich machen wir zu viel Aufhebens um eine eigentlich einfache Tätigkeit, die nur durch die Zusammensetzung der Schülerschaft verunmöglicht wird. Es gibt kein pädagogisches Konzept gegen Sprachbarrieren. Die Schulen würden besser fahren, die Kinder nach Muttersprachen zu sortieren und bilinguale Erwachsene Texte diktieren zu lassen. So, und jetzt richtig böse: Das geht auch, wenn man die Germanisten aus den Unis rauswirft.
Ich hab schon arabischen Freunden geraten, das Deutschlernen zu unterbrechen und sich lieber mehr auf die Berufsausbildung zu konzentrieren. Wir Deutschen haben so viel Angst, Kritik an Ausländern zu üben, dass wir immer die Wichtigkeit der Sprache überbetonen. Das Resultat sind etliche muslimische Aktivistinnen, die ihre Jugend mit Vokabeln Pauken vergeudet haben und jetzt beruflich Nörglerinnen sind. Bestellt wurde „Hauptsache, die lernen deutsch“ und „Hauptsache, sie haben eine Anstellung“. Bittschön!
Wolfgang Herles, den ich durchaus mag, hat mal allen Ernstes einen Artikel geschrieben, der um den Erhalt von 3Sat und Arte warb.
https://x.com/TichysEinblick/status/1842456715670782023
Das hat zwar nicht direkt was mit Migration zu tun, aber damit, dass es in Deutschland EEEEEEWIG dauert, bis man sich bereit zeigt IRGENDWAS mal zu ändern. Nein, der Staat muss nicht auch noch für Werbesender sorgen. Und, nein, Arte und 3Sat sind nicht mehr. Bücher und Theaterkarten sind nur Produkte, die dort verkloppt werden sollen.
Alles nach dem Motto „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ Von mir aus könnte Niro auch genauso gut keinen Musikunterricht geben.
Im Ausland gelten Deutsche als besonders „direkt“. Meine Erfahrung ist genau Gegenteilig. Vieles ist hier so festgefahren, weil kein Anliegen einfach mal ehrlich mit Bezug zum Eigennutz vorgetragen wird. Natürlich wollen die Kirchen die Masseneinwanderung vor allem, weil sie damit gleichzeitig an Bedeutung und an Billiglöhner kommen. Man könnte das Problemfeld „Pflege“, „Drecksarbeit“, „Doppelverdienerhaushalt mit Rumänin bei der Oma“ angehen, wenn es so vorgetragen würde. Aber Deutsche machen das nicht. Deutsche debattieren über das freiwillige Militärsozialgemeinschaftsdienstpflichtoptionsangebotsjahr.
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